35 Jahre Bhopal

Am 3. Dezember jährt sich einer der weltweit größten Chemieunfälle zum 35. Mal: die Giftgaskatastrophe von Bhopal. Die Opfer im nordindischen Madyar Pradesh kämpfen immer noch um Gerechtigkeit.
Diesen Hörfunkbeitrag habe ich für die DW Ende Oktober 2009 verfasst. Die online-Fassung gibt es im Netz nur auf spanisch.
In Deutschland startete vor 10 Jahren eine Öffentlichkeitskampagne von Umweltaktivistinnen und –aktivisten aus Bhopal, die an die Folgen dieser vermeidbaren Tragödie erinnern und über Ursachen, Langzeitwirkungen, Gerichtsverfahren und die Protestbewegung informiert.
Amnesty International, Studierende der Freien Universität Berlin und Greenpeace unterstützten diese Öffentlichkeitskampagne:

In der Nacht des 2. Dezember 1984 ereignete sich im nordindischen Bhopal eine folgenschwere Explosion: Mehrere Tonnen hochgiftiger Industriegase entwichen ungehindert aus einer Chemiefabrik des US-Unternehmens Union Carbide Corporation, in der u.a. das Schädlingsbekämpfungsmittel Sevin hergestellt wurde. Vor allem Methylisocyanat wurde freigesetzt. Wie es zur Explosion kam, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Klar ist nur, dass die Tanks viel zu voll waren, es an Personal- und Sicherheitskosten gespart wurde.
Innerhalb weniger Tage starben über 7.000 Menschen, im Laufe der folgenden Jahrzehnte über 22.000 Menschen an den Folgen der Gaseinwirkungen, u.a. Verätzungen durch gasförmige Salzsäure.
Bis zu 500.000 Menschen erlitten außerdem schwerwiegende Verletzungen. Viele wurden arbeitsunfähig. Sie klagen das Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Wasser ein und auf eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung.
Obwohl Union Carbide im Vorfeld des Unfalls viele der vorgeschriebenen Sicherheitsstandards aus Kostengründen vernachlässigt hatte, weigert sich das Unternehmen, das mittlerweile von Dow Chemical übernommen wurde, bis zum heutigen Tag, das Gelände zu dekontaminieren und die Opfer angemessen zu entschädigen.

Die Katastrohe von Bhopal ist nicht beendet, sagt die Menschenrechtsaktivistin Rachna Dhingra. Nach wie vor leiden die Menschen in Bhopal unter der Verseuchung des Bodens und ihres Trinkwassers. Jedes Jahr in der Zeit des Monsun sei es besonders schlimm, weil dann die Gifte wieder in das Oberflächenwasser gemischt werden. Auch wenn inzwischen etwa die Hälfte der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser versorgt wird, trinken immer noch die armen Menschen weiterhin das vergiftete und ungereinigte Wasser. Deshalb erkranken auch 25 Jahre nach der Giftgaskatastrophe immer noch Menschen an den Folgen der Verseuchung.
1999 haben sich das erste Mal Überlebende aus Bhopal auf den Weg gemacht, um von dem us-amerikanischen Chemiekonzern Dow Chemical, der Union Carbide übernommen hat, die Beseitigung der Umweltschäden zu verlangen. Allerdings weigert sich Dow Chemical beharrlich die Verantwortung für die immensen Schäden zu übernehmen: Keine Reinigung des Bodens und des Grundwassers. Und sie verweigern eine Beteiligung an den Kosten der Gesundheitsversorgung, sagt Rachna Dhingra:.

„Unsere Kampagne hat nur zwei Forderungen: Wir fordern für die Menschen in Bhopal ein Leben in Würde und sie wollen Gerechtigkeit. Und wir verlangen von dem Chemiekonzern Dow Chemical, dem neuen Besitzer von Union Carbide, die Schäden der Umweltkatastrophe in Bhopal zu beseitigen. Wir fordern eine ausreichende gesundheitliche Überwachung und Versorgung aller Menschen, die durch das Wasser krank werden und für die Babys, die mit Behinderungen geboren werden. Außerdem wollen wir, dass sich der Chemiekonzern seiner Verantwortung stellt und vor Gericht erscheint. Wir und die indische Regierung haben Dow mehrfach angeklagt. Aber die produzieren zwar in Indien, aber wenn es um die Verantwortung für ihr Handeln geht, dann ist von ihnen nichts mehr zu sehen.“

Es hat zwar immer wieder außergerichtliche Vereinbarungen zwischen Union Carbide und der indischen Regierung gegeben, von dem Geld ist aber nicht viel bei der Bevölkerung angekommen, klagen die Aktivisten. Was sind schon 470 Millionen Dollar, die auf 572 000 Menschen aufgeteilt werden. Umgerechnet 600 Euro bekamen Betroffene für eine Behinderung und 1500 – 1800 Euro für einen toten Familienangehörigen. So wie Sanjay Verma, der seine Eltern bei der Giftgaskatastrophe verlor. Heute studiert er und macht seinen Master in Wirtschaftswissenschaften. Für ihn war es selbstverständlich sich den Aktionen der Überlebenden von Bhopal anzuschließen. Beispielsweise den Hungerstreiks in Delhi, mit denen Gesprächstermine beim Premierminister erzwungen werden:

„Ich war einer der Hungernden. Nach sieben Tagen erklärte der Premierminister sich bereit mit uns zu reden. Einige gingen zu dem Gespräch und er sagte zu, alles Erdenkliche für uns zu tun. Aber nach einem Jahr ungefähr mussten wir uns eingestehen, dass von der Regierung gar nichts unternommen worden war, um unsere Lage zu verbessern. Also beschlossen wieder einige Menschen aus Bhopal zu einem unbefristeten Hungerstreik aufzurufen. Dieses Mal waren wir zu neunt, die 21 Tage hungerten. Wir haben damals immerhin erreicht, dass die Regierung eine Pipeline für Trinkwasser baute, die die Hälfte der Bevölkerung mit sauberem Wasser versorgt.“

Jede einzelne Maßnahme zur Verbesserung der Lebenssituation der Bevölkerung sei von den Aktivisten in Bhopal erkämpft worden, betont Sajay Verma. Immer wieder sind die Gasopfer nach Dehli marschiert, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen und die Verantwortung des Chemiekonzerns einzuklagen. Kinder und Enkelkinder der Betroffenen haben sich am des Regierungssitzes in Dehli angekettet, haben andere Kinder in Delhi veranlasst dem Premier Herzen zu schicken, weil offenbar keines hat, berichtet sie Studentin Safreen Khan, deren Eltern seit der Nacht vor 25 Jahren schwer krank sind:
„Viele Kinder in meinem Dorf wurden verstümmelten Gliedern geboren, mit einer Kiefer-Gaumen-Spalte oder mit deformierten Augen. Sie sind so behindert, dass sie nicht alleine laufen können. Als ich das alles sah und die Zusammenhänge erkannte, zwischen den viele Kranken und der Giftkatastrophe, habe ich beschlossen zu kämpfen. Kein Konzern hat das Recht unsere Zukunft zu zerstören. Im Gegensatz zu den kranken und behinderten Kindern, kann ich ohne Hilfe laufen und ich kann reden und kämpfen. Deshalb mache ich bei der Kampagne mit.“

Den Kindern werde aber nicht nur das Menschenrecht auf Gesundheit vorenthalten, sondern auch auf Bildung. Wenn die Eltern beide krank sind, müssen oft die Kinder Geld verdienen und können nicht in die Schule gehen. Den vielen Menschen in Bhopal wird aber auch deshalb nicht geholfen, weil der Chemiekonzern Dow Chemical keinen Präzedenzfall schaffen will. Der Konzern fürchtet, immense Geldforderungen aus anderen Entwicklungsländern, wenn er sich in Bhopal zu seiner Verantwortung bekennt. Denn es geht um viel Geld. Eine der ersten Forderungen der indischen Regierung belief sich auf 3,3 Billionen Dollar Schadensersatz für die Verseuchung und die Vergiftung von über einer halben Million Menschen, sagt Rachna Dhingra:.
„Nach unseren neuesten Informationen setzt Dow Chemical die indische Regierung nach wie vor unter Druck. Der Chemiekonzern bietet Investitionen in Höhe von einer Billion Dollar in Indien an, wenn die Gerichtsprozesse gegen Dow eingestellt werden, wenn nicht länger die Beseitigung der Altlasten gefordert wird. Wenn nicht länger die gesundheitliche Versorgung der geschädigten Bevölkerung verlangt wird. Man kann sich leicht vorstellen, dass alle einen Teil von dieser Billion Dollar abbekommen möchte.“

Aber selbst wenn ein Unternehmen den Forderungen nachkommt, wie zum Beispiel Union Carbide, die vor einigen Jahren zum Bau eines hochmodernen Krankenhauses zur Versorgung von Giftgasopfern verurteilt worden war, hat die normale Bevölkerung nichts davon, klagt die Menschenrechtsaktivistin Rachna Dhingra. Das Krankenhaus sei heute eine Oase für reiche, gutbetuchte Privatpatienten. Die Krüppel von Bhopal haben dort keinen Zutritt.