Tomatenwurf auf SDS-Kongress am 13.Sept.1968

30  Jahre Tomatenwurf

Über das erste Wetterleuchten der neuen Frauenbewegung 

Am 27. September wird der Bundestag gewählt. Ein Tag, an dem nicht nur die Parteienvertreter über Sieg oder Niederlage debattieren, es ist auch ein Tag, an dem die Frauenbewegung bilanzieren kann wie groß ihr Einfluss im höchsten deutschen Parlament ist. Wie viele Abgeordnete bezeichnen sich als Feministinnen? Wie viele haben feministische Frauenpolitik auf ihrer Agenda? Welche Partei lässt sich beispielsweise in der Elefantenrunde im Fernsehen von einer Frau repräsentieren? Die letzte Frage ist leicht zu beantworten: Außer der grünen Bundesgeschäftsführerin Heide Rühle sitzen dort meist nur Männer einschließlich der Moderatoren. Im Allerheiligsten sind Frauen in der Minderheit und ihre Interessen Randgruppenthemen.

Vor 30 Jahren, genauer gesagt am 13. September 1968, waren auf dem 23. Bundeskongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes – kurz SDS – Fraueninteressen auch nur Randthemen, die nicht auf die Tagesordnung sollten. Damals warf die Berliner Delegierte Sigrid Damm-Rüger aus Ärger über die männliche Arroganz Tomaten auf den Vorstand des SDS. Danach war alles einfacher. Diesen Tomatenwurf wünscht sich Halina Bendkowski, die gerade einen großen Kongress vorbereitet, auf dem an den legendären Tomatenwurf erinnert werden soll, heute wieder:

„Ich glaube, dass Tomaten fliegen müssen, um das Ketch-up der Gedanken zu befördern in allen Situationen, in den Männer glauben, unter sich bleiben zu können. Und dass das auch in Ordnung ist, dass sie unter sich sind, weil Frauen sie da nur stören. Ich glaube, sie müssen gestört werden, um zu lernen, dass die Welt, auch die kleine Welt hier in Deutschland, aus zwei oder wieviel Geschlechtern auch immer besteht und dass die miteinander über die anfallenden Probleme gemeinsam zureden haben, weil ja sonst immer vergessen wird, was Frauen in besonderer Weise betrifft.“

30 Jahre nach dem Tomatenwurf, der als erstes Wetterleuchten der neuen Frauenbewegung angesehen wird, können Aktivistinnen auf eine Menge Erreichtes zurückblicken, aber auch den Bereich benennen, in dem praktisch kein Jota im Bewusstsein der Mitmenschen verändert wurde: Wenn Männer und Frauen Kinder zusammen haben, liegt die Betreuung des Nachwuchses immer noch zu 98 Prozent in den Händen der Frauen: sie bleiben erst einmal zu Hause, später organisieren sie die Unterbringung in Kindergarten oder bei der Tagesmutter, sie reduzieren ihre Berufstätigkeit. Kinderfalle heißt dieses Phänomen heute bei Managementtrainerinnen. Halina Bendkowski:

„Immer noch ist ja die Kinderfrage ungelöst. Es ist ja jeder Frau überlassen, wie sie sie gerade individuell und persönlich managen kann. Da sind viele Frauen sowohl finanziell von überfordert, als auch von den fehlenden Ressourcen – mein ich jetzt von der sozialen Kompetenz ihrer Männer. Ich glaube, das ist bei uns ganz anders als in anderen Ländern in Deutschland wirklich ein anachronistische Situation. Es ist nicht in die Gesellschaft eingedrungen, dass die Gesellschaft dafür verantwortlich ist, wie man die Kinderfrage so löst, dass nicht nur die Frauen davon so behelligt sind, dass sie ihre Job machen können oder ihren Interessen nachgehen sollten.“

Letztlich war es vor 30 Jahren die Kinderfrage, die das Fass zum Überlaufen brachte. Helke Sander, heute Professorin an der Kunsthochschule in Hamburg, war damals Sprecherin des frisch gegründeten Aktionsrats zur Befreiung der Frauen. Sie hatte eine Rede zur Lage der Frauen innerhalb und außerhalb des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes geschrieben. Es war eine Abrechnung mit den revolutionären Patriarchen am heimischen Herd. Die SDS-Genossen müssen es geahnt haben. „Genosse Krahl, Du bist objektiv ein Konterrevolutionär und ein Agent des Klassenfeindes!“ rief Sigrid Damm-Rüger damals empört und warf die Tomaten auf den SDS-Theoretiker Hans-Jürgen Krahl. Krahl hatte – wie seine Vorredner – verhindern wollen, daß Helke Sander ihre Rede hielt. Sigrid Damm-Rüger war eine der wenigen Funktionärinnen des SDS und galt vor dem Kongress nicht als aufmüpfige Frau. Die Frauen glaubten damals noch an ihre Genossen, wollten mit ihnen zusammenarbeiten und hofften mit Bitten und Appellen, etwas zu erreichen: Die Genossen sollten den Frauen endlich einmal zuhören. Sigrid Damm-Rüger erinnert sich:

„Auf mehreren Sitzungen hier im Berliner SDS kurz vor dem ordentlichen Delegiertenkongress, der ja in Frankfurt stattfand, hatten Helke Sander und andere Frauen aus dem Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, darum gebeten, als Delegierte nach Frankfurt reisen zu dürfen und hatten dabei einen sehr schweren Stand. Die Männer hier im SDS sahen überhaupt nicht ein, was sie da wollte, ob das denn notwendig sei und das überhaupt eine Bedeutung hatte. Es wurde also sehr zögerlich und sehr abwehrend und sehr skeptisch diskutiert. Ja und als wir dann dort waren, waren wir ja schon gewappnet. Wir wussten ja aus den Diskussionen in Berlin, das wir nicht auf große Resonanz stoßen würden, dass tausend Ausreden gebracht werden würden, die Diskussion erneut zu vertagen. Und da habe ich einfach so bei mir gedacht, also müsste man irgendwie ein bisschen handgreiflich werden. Und da ich sowieso noch etwas zum Abendbrot kaufen wollte – ich war da in so einem Studentenheim untergebracht – hab ich überlegt: nehm ich Eier mit oder nehm ich Tomaten mit – es muss etwas sein, was ich gleichzeitig hinterher noch essen kann, wenn ich es nicht brauche. Und dann haben ich ein Säckchen Tomaten mitgenommen.

Ich esse Tomaten sehr gerne, die hätte ich dann eben gegessen, wenn ich sie für diesen Anlass nicht gebraucht hätte. Naja es kam leider so, wie wir vermutet hatten und dann hab ich eben mein Säckchen zerrissen und hab die Tomaten geworfen. Nu war ja überhaupt der Teufel los. Dieser Tomatenwurf war im Grunde genommen der Funke im Pulverfass. Die Debatte war einfach nicht mehr abzuwürgen. Es wurden dann noch eineinhalb Tage über die Frauenfrage und das Verhältnis der SDS-Genossen zu ihren Frauen und zu den SDS-Genossinnen diskutiert.“

Im Aktionsrat zur Befreiung der Frauen wurden vor allem Probleme der Kindererziehung diskutiert. Es entstanden die ersten Kinderläden. Kinder sollten kollektiv erzogen werden und nicht mehr nach den Prinzipien von Konkurrenzkampf und Leistung. Den SDS-Genossen waren die Kinderläden am Anfang suspekt. Letztlich war es vielleicht nur Neid, denn die Aktionsratsfrauen hatten großen Zulauf auch von Frauen aus nicht-akademischen Kreisen. Einen Erfolg, den die Genossen nicht vorweisen konnten. Die Kinderläden schafften den Müttern Bewegungsfreiheit und das schien, den patriarchalen Revolutionären nicht recht zu sein. Im Gegenteil die Männer wollten zwar die Welt draußen verändern, aber in den eigenen vier Wänden sollte es so bleiben wie es immer war.

Die Frauen hatten lange geschwiegen, hatten widerspruchslos Flugblätter getippt, Hausarbeit gemacht und den Weltverbesserern die Kinder vom Hals gehalten. In der Presse wurden sie damals „als Bräute der Revolution“ auf den Barrikaden von Paris, Berlin und Berkeley belächelt. Diese Bräute wollten nun die Debatten selbst bestimmen. Es sollte um ihre Lebensinhalte gehen, und vor allem um die Mühen, Kinder, Studium, Beruf und Zweierbeziehung unter einen Hut zu kriegen. Der Tomatenwurf wirkte befreiend. Die Werferin hatte ins Schwarze getroffen:

„Da war ich siegesgewiss, weil ich an den anderen Frauen im Saal gemerkt habe, wie die aufgesprungen sind und wie die dazwischengerufen haben und uns unterstützt haben, dass das jetzt endlich auf die Tagesordnung muss und dass das schließlich egal ist, welche Tagesordnung vorher aufgestellt worden wäre, es sei überhaupt eine Schande, dass diese Frage seit Jahren nicht auf der Tagesordnung gestanden habe. Da sind dann diese Frauen auch hochgegangen und ihrem Unmut Luft gemacht haben und Beiträge geliefert haben. Das hat deutlich gezeigt: das war genau das Richtige. Und entsprechend gut hab ich mich gefühlt und haben sich auch die anderen gefühlt.“

Vor allem in den Universitätsstädten schossen die Weiberräte, in denen die Frauen unter sich bleiben wollten, wie Pilze aus dem Boden. Einige Jahre später die Frauenprojekte, Frauenzentren und Frauenseminare an den Universitäten.

Spektakuläre Aktionen wie der Tomatenwurf haben den Anliegen der Frauenbewegung immer wieder öffentliche Aufmerksamkeit beschert: 1972 das Bekenntnis auf der Titelseite einer großen Illustrierten: Ich habe abgetrieben. Nachdem Prominente aus Politik, Film und Theater mit Bild und vollem Namen öffentlich bekundeten eine Schwangerschaft abgebrochen zu haben, war das Problem zwar nicht gelöst, aber aus der schmuddeligen Atmosphäre der Engelmacherei heraus geholt. Der Paragraph 218 ist ein Dauerthema der Frauenbewegung. Für viele ist er aber auch ein Symbol für das Scheitern: Noch nicht einmal die Streichung dieses Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch habt ihr geschafft, lautet der Vorwurf. In den Frauengruppen wird es dagegen heute als Erfolg gewertet, dass die jüngsten Vorstöße des Papstes in Sachen Schwangerenberatung bereits innerhalb katholischen Kirche auf Widerstand stoßen. Unstrittig sind die Erfolge beim Thema Gewalt gegen Frauen. Auch wenn die Gewalt gegen Frauen nicht weniger geworden ist, gibt es doch heute in fast jeder Kleinstadt Zufluchtsorte, für geschlagene Frauen. Sie müssen nicht mehr bei dem prügelnden Ehemann in der Wohnung bleiben. In größeren Städten finden Opfer von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch Rat und Hilfe. Bei Polizei und Staatsanwaltschaft sind für Opfer von sexualisierter Gewalt Sonderdezernate eingerichtet worden. Noch einmal Halina Bendkowski:

„Da ist wirklich ein Fortschritt erreicht worden. Nicht was das Gewaltaufkommen betrifft, das ist ja sogar, wenn man den Statistiken glaubt, also das, was angezeigt wird, das ist ja einen recht konstante Zahl. Was sich aber schon geändert hat, ist einfach die Situation für die Frauen. Sich aus der Situation würdiger – nicht würdig – aber würdiger als vor 30 Jahren daraus zu befreien. Ich glaube, dass die Existenz von Frauenhäusern und das Bewusstsein darüber, dass nicht sie die Schuld tragen, wenn sie geschlagen werden, wie das ja vor 30 Jahren, vor 20 Jahren und vor 15 Jahren noch in den Köpfen von Männern und Frauen auch existiert hat. Deswegen die Hilfsbereitschaft – ich meine nicht gesellschaftlich gesehen, dagegen etwas zu tun, gering war. Ich glaube, die Gewaltdebatte ist das Feld, wo die Frauenbewegung, wo sie am erfolgreichsten Hilfsstrategien gesellschaftlich in Bewegung gesetzt haben, das würde ich schon sagen.“
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Der wurde im August 1998 im Hörfunkreihe Zeitlupe des SWF Baden-Baden gesendet – Autorin: Henriette Wrege