Vor 34 Jahren explodierte das Atomkraftwerk in Tschernobyl. Erfahren habe ich davon erst als der Fallout schon unterwegs war. Der Grund: wir waren in Frankreich und dort kennt man keine Gefahren, die von AKWs ausgehen. Also standen die Kühe noch auf der Weide und die Alten aßen mit viel Appetit die weißen Wiesenchampignons. Als wir dann die Grenze zur Schweiz überquerten, merkten wir, dass irgendetwas passiert sein musste. Die Schutzvorkehrungen hielten wir anfangs für völlig übertrieben. Allerdings als ich dann von den ersten Regentropfen erwischt wurde, stieg auch bei mir der Respekt vor der Katastrophe. Die offizielle Politik hatte zu dem Nuklear Fall-Out übrigens keine Meinung! Es wurde weder eine Ausgangssperre verhängt, noch wurden von staatlicher Seite Strahlenmessungen angeordnet. Und so machten alle, was sie für richtig hielten.
Die einen wanderten mit ihren kleinen Kindern auf die Kanarischen Inseln aus. Die anderen aßen nur Südfrüchte. Die nächsten aßen gar kein Obst und Gemüse mehr und bekamen recht schnell eingerissene Mundwinkel. Wir in Berlin tranken nur noch die dänische Milch von Butter Lindner. Die Ostler freuten sich über Berge von grünem Salat und anderen Köstlichkeiten, die die Westler nicht mehr essen wollten. Meine Freunde in Ostberlin fanden, dass ihr Plutonium nicht so gemein ist, wie das, vor dem wir alle Angst hatten.
Geblieben ist die Angewohnheit, die Schuhe vor der Haustür abzustellen oder zumindest gleich hinter der Wohnungstür, damit man den strahlenden Straßenstaub nicht in der Wohnung verteilte. Eine Angewohnheit, die bei unseren türkischen Nachbarn sowieso galt – auch ohne Gammastrahlung. Da nach wie vor von staatlicher Seite – wie wir fanden – alles verharmlost wurde, erschienen Zeitschriften wie das Strahlentelex und diverse unabhängige Blätter. Unbeliebt machte sich auch der Lehrstuhl in Bremen, der sich mit Niedrigstrahlung und den Leukämiefällen rund um den Reaktor in Krümmel beschäftigte. Ingrid Schmitz-Feuerhake avancierte damals zu meiner Säulenheiligen. Auf jeden Fall begannen wir in mehrjährigen Dimensionen zu denken und uns an Halbwertzeiten von mindestens 30 Jahren zu gewöhnen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde damals das radioaktive Isotop Cäsium 137 bekannt. Es reichert sich im Boden an, in Pilzen und im Rahmen der Nahrungskette auch in Wildtieren. Ich kaufe übrigens nach wie vor keine Pfifferlinge aus Weißrussland!
Nachschub an radioaktivem Cäsium erhielt die Welt aus Fukushima im März 2011. Cäsium wird übrigens an Stelle ähnlich von Kalium vom Magen-Darm-Trakt resorbiert – und – ich muss es nochmal betonen – es hat niemanden interessiert, wie viele Leute krank wurden, z.B. an Leukämie oder Probleme mit der Schilddrüse haben oder von Krankheit und Tod bedroht wurden – dank der Atomtechnologie!