Armenier-Ethnozid

Der 24.April 1915 gilt als Beginn des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich. Als ich 2009 den Auftrag bekam eine 20 Minuten Sendung für den Bayerischen Rundfunk zu machen, galt das in der „Szene“ noch als gewagt. Meine Hauptquelle, die Wissenschaftlerin Tessa Hoffmann, zweifelte sogar daran, dass die Sendung jemals ausgestrahlt wird. Aber sie wurde es: zum 95. Jahrestag und zum 100. Jahrestag. Hier der Beginn des Features:
„Als wir an den Euphrat kamen, war das Wasser voller aufgetriebener Kinderkörper. Sie waren wie gefüllte Säcke. So sahen wir hunderte Kinder treiben. Als erstes hab ich ein abgetrenntes Bein gesehen.“

Zepur Metspakian hat den Massenmord an ihrem Volk – dem armenischen – überlebt. Die Bilder konnte sie ihr Leben lang nicht vergessen. Noch im hohen Alter hat sie von den Gräueln erzählt, deren Zeugin sie als kleines Mädchen wurde. Gräuel, die am 24. April 1915 begannen. Mitten in der Anfangsphase des 1. Weltkriegs, als die Regierung des Osmanischen Reichs den Ethnozid beschlossen hat. Sie konnte damit rechnen, dass der Beschluss in den Kriegswirren nicht viel Aufsehen erregen würde. Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts waren Armenier immer wieder Opfer von Massakern geworden. Trotzdem kamen die Razzien im April 1915 für die meisten Betroffenen offenbar völlig überraschend.

„Sie haben sich genauso abführen lassen wie die Juden im 2. Weltkrieg. Das kann man sehr gut vergleichen. Auch viele Juden haben tatsächlich geglaubt, dass sie mit diesen Güterwaggons, in die sie gepfercht wurden, irgendwo nach Osteuropa gebracht werden und da ein zwar hartes aber doch immerhin ein Leben anfangen. So haben auch viele Armenier geglaubt, die Deportation führt sie in neue Ansiedlungsgebiete.“

„Verdrängter Genozid – der Völkermord an den Armeniern 1915“
Erstausstrahlung am 19. April 2010 in br wissen. Das Manuskript kann man in der Redaktion bekommen und als Podcast steht das Stück bestimmt irgendwo im Netz. 

Erzählerin:

Tessa Hofmann, Professorin am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin über den Beginn des Massenmords an den Armeniern. Das Osmanischen Reich umfasst zu diesem Zeitpunkt ein Territorium von der Südspitze der arabischen Halbinsel bis an die Grenzen Bulgariens und Griechenlands im Norden, im Osten reicht es bis an den Kaukasus und im Westen bis nach Ägypten:

„Zu den frühen Maßnahmen der Vernichtung gehörte eine Massenrazzia von über 2000 Personen, beginnend mit der Nacht auf den 24. April. Vom 24., 25. und 26. April an wurden führende Armenier massenhaft verhaftet. Nur Männer, die dann in das Landesinnere per Bahn transportiert wurden und sie wurden dann vor Gericht gestellt und verhört. Man wollte nachweisen, dass sie Hochverrat begangen hatten, dass sie mit dem Ausland in Verbindung standen.“

Erzählerin:

Ein Vorwand. Viele Armenier haben Verwandte jenseits der Grenzen in verschiedenen Großreichen. Sie machen sich bereits wegen der familiären Kontakte ins Ausland in den Augen der türkischen Regierung verdächtig. Darüber hinaus gelten alle Christen im Osmanischen Reich als unzuverlässig, so auch die Armenier.

„Diese intellektuelle Führungsschicht ist bis auf wenige Ausnahmen vernichtet worden. Ähnliche Vorgänge gab es in fast allen größeren Orten des osmanischen Reiches, wo dann regional vom Apotheker, Lehrer, Arzt an die Männer festgenommen wurden, in die Gefängnisse geschleppt, gefoltert und ermordet.“

Erzählerin:

Die Frauen versuchen, ihre verhafteten Männer in den Gefängnissen mit Geld, Kleidung und Lebensmittel zu versorgen, sagt Tessa Hofmann, die sich seit über 30 Jahren mit der Erforschung des Völkermords an den Armeniern beschäftigt. Fast niemand kommt auf die Idee, dass die Verhaftungswelle der Beginn eines Vernichtungsfeldzugs gegen die armenische Bevölkerung sein könnte. Deshalb bereiten die wenigsten eine Flucht vor und wenn der Deportationsbefehl kam, war es zu spät.

„Manchmal waren die Fristen sehr knapp. Da wurde nur vier Stunden vorher bekannt gegeben, dass man sich zum Abmarsch bereit zu halten hatte.“

Erzählerin:

Die Menschen, die da in langen Schlangen über die Landstraßen und Feldwege getrieben werden, haben den Ruf, schlechte Menschen zu sein. Armenier werden oft pauschal mit Begriffen wie „Pest“, „Parasit“ oder „Raubvogel“ belegt. All dies leistet der Entmenschlichung Vorschub und lässt Verbrechen an ihnen als gerechtfertigt erscheinen, sagt Tessa Hofmann. Und dennoch gibt es auch muslimische Nachbarn oder Dorfvorsteher, die den armenischen Familien helfen.

Offiziell heißt es, die Armenier bekämen in Nordsyrien und dem Nordirak eine neue Heimstatt. Doch sind die Märsche von Anfang an so organisiert, dass möglichst wenige Menschen die angeblichen Ansiedlungsgebiete in Nordsyrien oder dem Nordirak am Euphrat und seinen Nebenflüssen erreichen werden. Die Menschen leiden Hunger und Durst, sie sind Hitze und Kälte schutzlos ausgeliefert.

„Auf den Todesmärschen kam es dann auch zu jeder Menge Plünderungen durch die ortsansässige islamische Bevölkerung. Da gibt es in der zeitgenössischen  Literatur wie auch in den Erinnerungen von Überlebenden sehr furchtbare Szenen.“

Alte und Kranke brechen entkräftet zusammen, sterben am Straßenrand. Leichen säumen die Wege. Wer die Todesmärsche überlebt, kommt in Lager, die Konzentrationslagern gleichen – Vernichtungslagern.

Diese Lager werden nach einem Jahr – 1916 – aufgelöst und die letzten Gefangenen liquidiert.

„Wer da noch lebte, wer nicht an Typhus, an Hunger und Entkräftung zu Grunde gegangen war, der wurde gezielt massakriert. An manchen Orten war es so, dass die Leute in Höhlen reingetrieben wurden. Das Erdöl tritt dort an die Oberfläche und man braucht nur eine Fackel reinzuwerfen und dann steht alles in Flammen und darin sind dann die noch lebenden Frauen und Kinder erstickt oder lebendig verbrannt. Diese Höhlen findet man in Syrien heute noch mit Tausenden von Schädeln und Knochen, die davon sprechen, was dort passiert ist.“

Das alles geschieht in nur 18 Monaten.

Zu den zuverlässigsten Quellen zum Völkermord an den Armeniern zählen die Akten im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, wo die zahlreichen deutschen Konsulatberichte aus der Zeit aufbewahrt sind. Die deutschen Diplomaten waren Chronisten der Vorgänge. Tessa Hofmann:

„Es gab in fast jeder Provinzhauptstadt des Osmanischen Reiches ein deutsches Konsulat. Schon Anfang Juni 1915 kommt der deutsche Botschafter in Konstantinopel – so hieß damals Istanbul als Hauptstadt des Osmanischen Reiches – zu dem Schluss, dass es hier nicht – wie die osmanische Regierung behauptete – darum ging, aus Kriegsgebieten die armenische Bevölkerung zu entfernen, sondern es ging um die flächendeckende Vernichtung auch in jenen Gebieten des Osmanischen Reiches, wo keine Frontgebiete waren, die sich sehr weit Hunderte von Kilometern weit entfernt von irgendeiner Front befanden.“

Der deutsche Botschafter in Konstantinopel Baron Hans von Wangenheim in einem Brief  an Reichskanzler von Bethmann-Hollweg:

„Die Austreibung und Umsiedlung der armenischen Bevölkerung beschränkte sich bis vor 14 Tagen auf die dem östlichen Kriegsschauplatz benachbarten Provinzen und auf einige Bezirke der Provinz Adana. Seitdem hat die Pforte beschlossen, diese Maßregel auch auf die Provinzen Trapezunt, Mamuret ul Aziz und Siwas auszudehnen, und mit der Ausführung begonnen, obwohl diese Landesteile vorläufig von keiner feindlichen Invasion bedroht sind. Dieser Umstand und die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, zeigen, dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten.“

Bis heute ist unbekannt, wie viele Menschen ums Leben gekommen sind. Schätzungen sprechen von 1,5 Millionen. In deutschen Akten wird 1914 eine Zahl von etwa 2,5 Millionen Armeniern angegeben, die im osmanischen Reich leben. Am Ende des Vernichtungsfeldzugs liegt der Anteil der Armenier an der Bevölkerung nur noch bei rund 500 000:

Musik: Duduk

 Die Türkei ist im 1. Weltkrieg mit dem Deutschen Reich verbündet, deshalb versucht die deutsche Seite jede Einmischung in deren Angelegenheiten zu unterbinden. Als Einmischung gilt es bereits, über die Massaker an den Armeniern zu informieren. Darüber hinaus erstickt die Militärzensur jegliche öffentliche Debatte. So erfährt die deutsche Bevölkerung so gut wie nichts von den Ereignissen. Dagegen sei in Ländern ohne Zensur wie beispielsweise der Schweiz der Völkermord an den Armeniern sehr wohl ein öffentliches Thema gewesen, sagt der Religionswissenschaftler Hermann Goltz. Im Berliner Kriegspresseamt formuliert man bereits während des Krieges vorsorglich eine Stellungnahme zur deutschen Verantwortung:

 „Über die Armeniergräuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deswegen ist es einstweilen Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muss man die Sache mit größter Vorsicht und Zurückhaltung behandeln und hervorheben, dass die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden.

Über die armenische Frage wird am besten geschwiegen. Besonders löblich ist das Verhalten der türkischen Machthaber in dieser Frage nicht.“

 Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht hält sich nicht an das Schweigegebot. In der Sitzung des Reichtags am 11. Januar 1916 fragt er:

„Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Gräuel zu verhindern?“

Als Karl Liebknecht die Zusatzfrage stellen will:

„Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier gesprochen hat?“

wird er niedergeschrien. Den meisten Parlamentsabgeordneten erscheint jegliche Kritik am osmanischen Kriegsverbündeten unerträglich. Noch 20 Jahre zuvor, als unter dem damaligen Sultan Abdul Hamid zwischen 1894 und 1896 die wirtschaftliche und politische Elite der Armenier ausgeschaltet und Tausende von Armenier ermordet werden, löst das Interventionen nicht nur Frankreichs, Großbritanniens und Russlands sondern auch des Deutschen Reichs aus. Allerdings ist man zu dieser Zeit politisch noch nicht allzu eng verbündet.

So kann Kaiser Wilhelm II., als er von den Massenschlächtereien in der Hauptstadt an den Armeniern erfährt, seiner Empörung freien Lauf lassen.

Er fordert sogar Kanonenkugeln auf Jildis und die Absetzung des osmanischen Alleinherrschers Abdul Hamid.

„Da muss der Pforte doch in andrem Ton gesprochen werden! Denn es sind doch Christen!“

Die Armenier sind das älteste christliche Volk. Im Jahr 301 nach Christus haben sie die christliche Religion als Staatsreligion angenommen, 12 Jahre bevor Kaiser Konstantin das Christentum als Staatsreligion im römischen Reich einführt. Dennoch verachten viele deutsche Diplomaten und Offiziere die Armenier. In ihren Augen sind sie den Juden ähnlich: ein Volk, das vom Handel lebt, deren städtische Minderheit aufgeklärt und modern ist. Nichts Positives in den Augen der deutschen Adligen in kaiserlichen Diensten. Der Religionswissenschaftler Hermann Goltz von der Universität Halle-Wittenberg:

„Das war das Bild des raffinierten Händlers, des Kaufmanns. Das sind Bilder, die auch ganz ähnlich im Antisemitismus auftauchen. Es gab einen ebenso starken Antiarmenismus auch im deutschen Bereich. Die deutschen Offiziere, die deutschen Kaufleute, die deutschen Handwerker hatten dieses übernommen, was viele Türken sagten, die in einer Art Sozialneid die Armenier schlecht machten. So dass Sie die beiden Seiten des Armenierbildes sehen müssen: Einerseits das älteste christliche Volk der Welt, andererseits levantinische Kaufleute, die sogar ihre Töchter und Mütter verkaufen. Auf alle Fälle haben ein Teil der deutschen Offiziere, die in der osmanischen Armee wirkten, in einer Art Vorform des Antisemitismus auch ein solches negatives Armenierbild gehabt und auch die Deportationen durchaus bejaht.“

Musik: Duduk

Die Verfolgung der armenischen Bevölkerung beginnt bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Seit den Balkankriegen stehen die Christen unter Generalverdacht, den Westmächten und Russland zu zuarbeiten und das Osmanische Reich zu verraten. An den Rändern des Osmanischen Reichs gründen sich mit Unterstützung der Westmächte immer mehr Nationalstaaten. Sultan Abdul Hamid versucht den Zerfall seines Riesenreiches aufzuhalten, indem er Türken, Araber und Kurden auf ihre gemeinsame Religion einschwört. Für christliche Minderheiten ist kein Platz mehr, sagt Herman Goltz. Er befasst sich seit über 30 Jahren mit der armenischen Kirche:

„1878, die Russen hatten kurz vorher ihren Krieg gegen die Türken gewonnen und haben den Türken einen Friedensvertrag diktiert. Da war dann auch von der türkischen Regierung versprochen worden für die armenische Bevölkerung Reformen durchzuführen, d.h. eine Teilautonomie zu gewähren. So hat aber auf alle Fälle die osmanisch-türkische Regierung erfahren, dass die Armenier ein Anlass waren, für Großmächte in die innere Politik der Türkei einzugreifen. Und da hat man immer wieder versucht, sich der armenischen Bevölkerung zu entledigen, um diesen Hebel der Großmächte loszuwerden, sich in die „inneren Angelegenheiten“ der Türkei einzumischen.“

Immer wieder werden die Armenier Opfer von Pogromen. 3000 Armeniern wird die Kathedrale in Urfa zur Falle, in der sie bei lebendigem Leib verbrannt werden. Für dieses Ereignis wird Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff „Holocaust“ geprägt. 1907 sterben bei einem Massaker in Kilikien rund 30 000 Armenier.

1908 putschen die so genannten Jungtürken gegen das verkrustete Regime von Sultan Abdul Hamid. Die Jungtürken setzen den Sultan ab und rufen die Republik aus. Da die Partei Reformen verspricht und eine Verfassung erlassen will, hoffen viele Armenier auf eine Verbesserung ihrer Lage und das Ende der Verfolgung. Allerdings wird spätestens nach dem Massaker in der Provinz Adana 1909 offensichtlich, dass auch die Jungtürken kompromisslos gegen die Armenier vorgehen. Nun setzt eine Massenflucht ein, in deren Folge die armenischen Gemeinschaften in den USA und in Nachbarländern wie Bulgarien und Russland entstehen.

Musik : Duduk

1909, nach der Regierungsübernahme durch die Partei der Jungtürken wird die Lage für die Armenier immer bedrohlicher. Wurden sie bislang willkürlich und regional begrenzt verhaftet und ermordet, systematisiert die neue nationalistische Regierung die Verfolgung. In einer flächendeckenden Volkszählung werden alle Armenier erfasst. In ihren Siedlungsgebieten werden die Häuser nach Waffen, Bomben und Sprengstoff durchsucht. Tessa Hofmann sagt, das Programm sei mit erstaunlicher Akribie durchgeführt worden.

„Es war ein korruptes Land bis über die Ohren und umso höher ist die Anstrengung zu werten, die man geleistet hat, um die Christen auszuschalten. Ich sag bewusst die Christen. Es gab ja neben den Armeniern noch die kleinere Gruppe der aramäisch sprachigen Christen – da ist eine halbe Million Menschen in vier Jahren zu beklagen.“

Durch die Präzision, mit der vorgegangen wird, entsteht bei Forscherinnen und Forschern der Eindruck, der Völkermord trage eine deutsche Handschrift.

Laut Tessa Hofmann sind Ausmaß und Art der deutschen Beteiligung unter Historikern umstritten und gehören nach wie vor zu den Bereichen, die noch nicht ausreichend erforscht sind.

Auch Hermann Goltz stellte bei seinen Nachforschungen fest, dass es viele Verbindungen zwischen deutscher und armenischer Geschichte gibt. Eine wichtige Rolle spielt dabei der evangelische Theologe Johannes Lepsius. Er ist 1915 Pfarrer in einem Dorf im Harz und hat sich aber bereits Ende des 19. Jahrhunderts für die verfolgten Christen im Osmanischen Reich engagiert.

„Gerade weil er direkte Kontakte ins Osmanische Reich hatte, hat er dann sogar mit Hilfe seiner Dorfbevölkerung ein Hilfswerk ins Leben gerufen und hat dann von diesem kleinen Harzdorf 1898 eine Teppichmanufaktur transferiert ins Osmanische Reich, um den überlebenden Witwen und Mädchen zu helfen und hat dann in der mesopotamischen Stadt Urfa diese erste Hilfsstation gegründet. Und dass er eine solche Autorität besaß auch in der Türkei, dass er z. B. bei Enver Pascha, dem osmanischen Kriegsminister, im August 1915 zu einem Streitgespräch vorgelassen wurde, das liegt daran, dass er schon eine bekannte Autorität war. Einerseits durchaus christliches Hilfsengagement, andererseits aber ein Kenner des osmanischen Reichs und der politischen Verhältnisse dort von Jugend auf – kann man sagen.“

Musik: Duduk 

Auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 wird über eine deutsche Mitschuld am Völkermord diskutiert. Um sich reinzuwaschen, gibt das Auswärtige Amt bei Johannes Lepsius ein Weißbuch in Auftrag. Dafür ediert er 444 Schriftstücke. Am Ende ist alles, was die deutsche Diplomatie belastet, aus dem Text verschwunden. Lepsius verringert sogar die Opferzahlen. Warum er das getan hat, das beschäftigt noch heute die Wissenschaft. Hermann Goltz:

Es ist alles klar, nur es ist nicht alles bekannt. Z. B. kennt jeder, der sich mit der Sache beschäftigt, den Titel „Der Todesgang des armenischen Volkes“, es kennt jeder den Titel „ Deutschland und Armenien“ – das sind alles Dokumentationen, die Lepsius herausgegeben hat. Es ist ungefähr so wie die Forschungen über die Shoa. Dass die Grundzüge bekannt sind, und auch unwiderleglich bewiesen sind, dass es aber immer wieder die Möglichkeit gibt wichtige Einzelzüge zu erforschen.“

1919 wird in der Türkei der ehemalige Innenminister Talaat Pascha gemeinsam mit anderen führenden Mitgliedern der jungtürkischen Regierung in Abwesenheit als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt. Ihm war Anfang November 1918 die Flucht auf ein deutsches Kanonenboot gelungen. Wenig später kommt er nach Berlin, wo er unter falschem Namen drei Jahre lebt, bis er von dem armenischen Studenten Soronom Tehlirjan erschossen wird. Im Juni 1921 findet der Mordprozess vor dem Berliner Schwurgericht  statt. In der Verhandlung rollt das Gericht die gesamte Geschichte des Völkermords auf und spricht den Mörder frei. Im Publikum: der Jurastudent und spätere Ankläger der Nürnberger Prozesse Robert Kempner.

Musik Duduk

Dass es heute eine klare Definition des Begriffs „Völkermord“ gibt, hat ebenfalls mit den Massakern an den Armeniern zu tun. Für den Juristen Rafael Lemkin bildete der Völkermord an den osmanischen Christen und die Shoa im 2. Weltkrieg die empirische Grundlage seines Entwurfs der Völkermordkonvention, die 1948 von den Vereinten Nationen erlassen wurde.

Musik: Duduk

Dennoch bestreitet bis heute jede türkische Regierung, dass es sich bei den Massakern an den Armeniern um Völkermord handelt. Nach wie vor werden alle diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt, um zu verhindern, dass auf offizieller Ebene davon gesprochen wird, was 1915 und 1916 geschehen ist.

 

Tessa Hofmann, Professorin am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin über den Beginn des Massenmords an den Armeniern. Das Osmanischen Reich umfasst zu diesem Zeitpunkt ein Territorium von der Südspitze der arabischen Halbinsel bis an die Grenzen Bulgariens und Griechenlands im Norden, im Osten reicht es bis an den Kaukasus und im Westen bis nach Ägypten:

Zuspielung 2:

„Zu den frühen Maßnahmen der Vernichtung gehörte eine Massenrazzia von über 2000 Personen, beginnend mit der Nacht auf den 24. April. Vom 24., 25. und 26. April an wurden führende Armenier massenhaft verhaftet. Nur Männer, die dann in das Landesinnere per Bahn transportiert wurden und sie wurden dann vor Gericht gestellt und verhört. Man wollte nachweisen, dass sie Hochverrat begangen hatten, dass sie mit dem Ausland in Verbindung standen.“

 

Erzählerin:

Ein Vorwand. Viele Armenier haben Verwandte jenseits der Grenzen in verschiedenen Großreichen. Sie machen sich bereits wegen der familiären Kontakte ins Ausland in den Augen der türkischen Regierung verdächtig. Darüber hinaus gelten alle Christen im Osmanischen Reich als unzuverlässig, so auch die Armenier.

 

Zuspielung 3:

„Diese intellektuelle Führungsschicht ist bis auf wenige Ausnahmen vernichtet worden. Ähnliche Vorgänge gab es in fast allen größeren Orten des osmanischen Reiches, wo dann regional vom Apotheker, Lehrer, Arzt an die Männer festgenommen wurden, in die Gefängnisse geschleppt, gefoltert und ermordet.“

 

Erzählerin:

Die Frauen versuchen, ihre verhafteten Männer in den Gefängnissen mit Geld, Kleidung und Lebensmittel zu versorgen, sagt Tessa Hofmann, die sich seit über 30 Jahren mit der Erforschung des Völkermords an den Armeniern beschäftigt. Fast niemand kommt auf die Idee, dass die Verhaftungswelle der Beginn eines Vernichtungsfeldzugs gegen die armenische Bevölkerung sein könnte. Deshalb bereiten die wenigsten eine Flucht vor und wenn der Deportationsbefehl kam, war es zu spät.

 

 

Zuspielung 4

„Manchmal waren die Fristen sehr knapp. Da wurde nur vier Stunden vorher bekannt gegeben, dass man sich zum Abmarsch bereit zu halten hatte.“

 

Erzählerin:

Die Menschen, die da in langen Schlangen über die Landstraßen und Feldwege getrieben werden, haben den Ruf, schlechte Menschen zu sein. Armenier werden oft pauschal mit Begriffen wie „Pest“, „Parasit“ oder „Raubvogel“ belegt. All dies leistet der Entmenschlichung Vorschub und lässt Verbrechen an ihnen als gerechtfertigt erscheinen, sagt Tessa Hofmann. Und dennoch gibt es auch muslimische Nachbarn oder Dorfvorsteher, die den armenischen Familien helfen.

Offiziell heißt es, die Armenier bekämen in Nordsyrien und dem Nordirak eine neue Heimstatt. Doch sind die Märsche von Anfang an so organisiert, dass möglichst wenige Menschen die angeblichen Ansiedlungsgebiete in Nordsyrien oder dem Nordirak am Euphrat und seinen Nebenflüssen erreichen werden. Die Menschen leiden Hunger und Durst, sie sind Hitze und Kälte schutzlos ausgeliefert.

 

Zuspielung 6:

„Auf den Todesmärschen kam es dann auch zu jeder Menge Plünderungen durch die ortsansässige islamische Bevölkerung. Da gibt es in der zeitgenössischen  Literatur wie auch in den Erinnerungen von Überlebenden sehr furchtbare Szenen.“

 

Erzählerin:

Alte und Kranke brechen entkräftet zusammen, sterben am Straßenrand. Leichen säumen die Wege. Wer die Todesmärsche überlebt, kommt in Lager, die Konzentrationslagern gleichen – Vernichtungslagern.

Diese Lager werden nach einem Jahr – 1916 – aufgelöst und die letzten Gefangenen liquidiert.

 

Zuspielung 7:

„Wer da noch lebte, wer nicht an Typhus, an Hunger und Entkräftung zu Grunde gegangen war, der wurde gezielt massakriert. An manchen Orten war es so, dass die Leute in Höhlen reingetrieben wurden. Das Erdöl tritt dort an die Oberfläche und man braucht nur eine Fackel reinzuwerfen und dann steht alles in Flammen und darin sind dann die noch lebenden Frauen und Kinder erstickt oder lebendig verbrannt. Diese Höhlen findet man in Syrien heute noch mit Tausenden von Schädeln und Knochen, die davon sprechen, was dort passiert ist.“

 

Erzählerin:

Das alles geschieht in nur 18 Monaten.

Zu den zuverlässigsten Quellen zum Völkermord an den Armeniern zählen die Akten im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, wo die zahlreichen deutschen Konsulatberichte aus der Zeit aufbewahrt sind. Die deutschen Diplomaten waren Chronisten der Vorgänge. Tessa Hofmann:

 

Zuspielung 8: 

„Es gab in fast jeder Provinzhauptstadt des Osmanischen Reiches ein deutsches Konsulat. Schon Anfang Juni 1915 kommt der deutsche Botschafter in Konstantinopel – so hieß damals Istanbul als Hauptstadt des Osmanischen Reiches – zu dem Schluss, dass es hier nicht – wie die osmanische Regierung behauptete – darum ging, aus Kriegsgebieten die armenische Bevölkerung zu entfernen, sondern es ging um die flächendeckende Vernichtung auch in jenen Gebieten des Osmanischen Reiches, wo keine Frontgebiete waren, die sich sehr weit Hunderte von Kilometern weit entfernt von irgendeiner Front befanden.“

 

Erzählerin:

Der deutsche Botschafter in Konstantinopel Baron Hans von Wangenheim in einem Brief  an Reichskanzler von Bethmann-Hollweg:

 

 

Zitator:

„Die Austreibung und Umsiedlung der armenischen Bevölkerung beschränkte sich bis vor 14 Tagen auf die dem östlichen Kriegsschauplatz benachbarten Provinzen und auf einige Bezirke der Provinz Adana. Seitdem hat die Pforte beschlossen, diese Maßregel auch auf die Provinzen Trapezunt, Mamuret ul Aziz und Siwas auszudehnen, und mit der Ausführung begonnen, obwohl diese Landesteile vorläufig von keiner feindlichen Invasion bedroht sind. Dieser Umstand und die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, zeigen, dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten.“

 

Erzählerin.:

Bis heute ist unbekannt, wie viele Menschen ums Leben gekommen sind. Schätzungen sprechen von 1,5 Millionen. In deutschen Akten wird 1914 eine Zahl von etwa 2,5 Millionen Armeniern angegeben, die im osmanischen Reich leben. Am Ende des Vernichtungsfeldzugs liegt der Anteil der Armenier an der Bevölkerung nur noch bei rund 500 000:

 

Musik: Duduk

 

Erzählerin:

Die Türkei ist im 1. Weltkrieg mit dem Deutschen Reich verbündet, deshalb versucht die deutsche Seite jede Einmischung in deren Angelegenheiten zu unterbinden. Als Einmischung gilt es bereits, über die Massaker an den Armeniern zu informieren. Darüber hinaus erstickt die Militärzensur jegliche öffentliche Debatte. So erfährt die deutsche Bevölkerung so gut wie nichts von den Ereignissen. Dagegen sei in Ländern ohne Zensur wie beispielsweise der Schweiz der Völkermord an den Armeniern sehr wohl ein öffentliches Thema gewesen, sagt der Religionswissenschaftler Hermann Goltz. Im Berliner Kriegspresseamt formuliert man bereits während des Krieges vorsorglich eine Stellungnahme zur deutschen Verantwortung:

 

Zitator:

„Über die Armeniergräuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deswegen ist es einstweilen Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muss man die Sache mit größter Vorsicht und Zurückhaltung behandeln und hervorheben, dass die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden.

Über die armenische Frage wird am besten geschwiegen. Besonders löblich ist das Verhalten der türkischen Machthaber in dieser Frage nicht.“

 

Erzählerin:

Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht hält sich nicht an das Schweigegebot. In der Sitzung des Reichtags am 11. Januar 1916 fragt er:

 

Zitator:

„Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Gräuel zu verhindern?“

 

Erzählerin:

Als Karl Liebknecht die Zusatzfrage stellen will:

 

Zitator:

„Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier gesprochen hat?“

Erzählerin:

wird er niedergeschrien. Den meisten Parlamentsabgeordneten erscheint jegliche Kritik am osmanischen Kriegsverbündeten unerträglich. Noch 20 Jahre zuvor, als unter dem damaligen Sultan Abdul Hamid zwischen 1894 und 1896 die wirtschaftliche und politische Elite der Armenier ausgeschaltet und Tausende von Armenier ermordet werden, löst das Interventionen nicht nur Frankreichs, Großbritanniens und Russlands sondern auch des Deutschen Reichs aus. Allerdings ist man zu dieser Zeit politisch noch nicht allzu eng verbündet.

So kann Kaiser Wilhelm II., als er von den Massenschlächtereien in der Hauptstadt an den Armeniern erfährt, seiner Empörung freien Lauf lassen.

Er fordert sogar Kanonenkugeln auf Jildis und die Absetzung des osmanischen Alleinherrschers Abdul Hamid.

 

Zitator:

„Da muss der Pforte doch in andrem Ton gesprochen werden! Denn es sind doch Christen!“

 

Erzählerin:

Die Armenier sind das älteste christliche Volk. Im Jahr 301 nach Christus haben sie die christliche Religion als Staatsreligion angenommen, 12 Jahre bevor Kaiser Konstantin das Christentum als Staatsreligion im römischen Reich einführt. Dennoch verachten viele deutsche Diplomaten und Offiziere die Armenier. In ihren Augen sind sie den Juden ähnlich: ein Volk, das vom Handel lebt, deren städtische Minderheit aufgeklärt und modern ist. Nichts Positives in den Augen der deutschen Adligen in kaiserlichen Diensten. Der Religionswissenschaftler Hermann Goltz von der Universität Halle-Wittenberg:

 

Zuspielung 11:

„Das war das Bild des raffinierten Händlers, des Kaufmanns. Das sind Bilder, die auch ganz ähnlich im Antisemitismus auftauchen. Es gab einen ebenso starken Antiarmenismus auch im deutschen Bereich. Die deutschen Offiziere, die deutschen Kaufleute, die deutschen Handwerker hatten dieses übernommen, was viele Türken sagten, die in einer Art Sozialneid die Armenier schlecht machten. So dass Sie die beiden Seiten des Armenierbildes sehen müssen: Einerseits das älteste christliche Volk der Welt, andererseits levantinische Kaufleute, die sogar ihre Töchter und Mütter verkaufen. Auf alle Fälle haben ein Teil der deutschen Offiziere, die in der osmanischen Armee wirkten, in einer Art Vorform des Antisemitismus auch ein solches negatives Armenierbild gehabt und auch die Deportationen durchaus bejaht.“

 

Musik: Duduk

 

Erzählerin:

Die Verfolgung der armenischen Bevölkerung beginnt bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Seit den Balkankriegen stehen die Christen unter Generalverdacht, den Westmächten und Russland zu zuarbeiten und das Osmanische Reich zu verraten. An den Rändern des Osmanischen Reichs gründen sich mit Unterstützung der Westmächte immer mehr Nationalstaaten. Sultan Abdul Hamid versucht den Zerfall seines Riesenreiches aufzuhalten, indem er Türken, Araber und Kurden auf ihre gemeinsame Religion einschwört. Für christliche Minderheiten ist kein Platz mehr, sagt Herman Goltz. Er befasst sich seit über 30 Jahren mit der armenischen Kirche:

 

Zuspielung 12:

„1878, die Russen hatten kurz vorher ihren Krieg gegen die Türken gewonnen und haben den Türken einen Friedensvertrag diktiert. Da war dann auch von der türkischen Regierung versprochen worden für die armenische Bevölkerung Reformen durchzuführen, d.h. eine Teilautonomie zu gewähren. So hat aber auf alle Fälle die osmanisch-türkische Regierung erfahren, dass die Armenier ein Anlass waren, für Großmächte in die innere Politik der Türkei einzugreifen. Und da hat man immer wieder versucht, sich der armenischen Bevölkerung zu entledigen, um diesen Hebel der Großmächte loszuwerden, sich in die „inneren Angelegenheiten“ der Türkei einzumischen.“

 

Erzählerin:

Immer wieder werden die Armenier Opfer von Pogromen. 3000 Armeniern wird die Kathedrale in Urfa zur Falle, in der sie bei lebendigem Leib verbrannt werden. Für dieses Ereignis wird Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff „Holocaust“ geprägt. 1907 sterben bei einem Massaker in Kilikien rund 30 000 Armenier.

1908 putschen die so genannten Jungtürken gegen das verkrustete Regime von Sultan Abdul Hamid. Die Jungtürken setzen den Sultan ab und rufen die Republik aus. Da die Partei Reformen verspricht und eine Verfassung erlassen will, hoffen viele Armenier auf eine Verbesserung ihrer Lage und das Ende der Verfolgung. Allerdings wird spätestens nach dem Massaker in der Provinz Adana 1909 offensichtlich, dass auch die Jungtürken kompromisslos gegen die Armenier vorgehen. Nun setzt eine Massenflucht ein, in deren Folge die armenischen Gemeinschaften in den USA und in Nachbarländern wie Bulgarien und Russland entstehen.

 

Musik : Duduk

 

Erzählerin

1909, nach der Regierungsübernahme durch die Partei der Jungtürken wird die Lage für die Armenier immer bedrohlicher. Wurden sie bislang willkürlich und regional begrenzt verhaftet und ermordet, systematisiert die neue nationalistische Regierung die Verfolgung. In einer flächendeckenden Volkszählung werden alle Armenier erfasst. In ihren Siedlungsgebieten werden die Häuser nach Waffen, Bomben und Sprengstoff durchsucht. Tessa Hofmann sagt, das Programm sei mit erstaunlicher Akribie durchgeführt worden.

 

Zuspielung 13:

„Es war ein korruptes Land bis über die Ohren und umso höher ist die Anstrengung zu werten, die man geleistet hat, um die Christen auszuschalten. Ich sag bewusst die Christen. Es gab ja neben den Armeniern noch die kleinere Gruppe der aramäisch sprachigen Christen – da ist eine halbe Million Menschen in vier Jahren zu beklagen.“

 

Erzählerin:

Durch die Präzision, mit der vorgegangen wird, entsteht bei Forscherinnen und Forschern der Eindruck, der Völkermord trage eine deutsche Handschrift.

Laut Tessa Hofmann sind Ausmaß und Art der deutschen Beteiligung unter Historikern umstritten und gehören nach wie vor zu den Bereichen, die noch nicht ausreichend erforscht sind.

Auch Hermann Goltz stellte bei seinen Nachforschungen fest, dass es viele Verbindungen zwischen deutscher und armenischer Geschichte gibt. Eine wichtige Rolle spielt dabei der evangelische Theologe Johannes Lepsius. Er ist 1915 Pfarrer in einem Dorf im Harz und hat sich aber bereits Ende des 19. Jahrhunderts für die verfolgten Christen im Osmanischen Reich engagiert.

 

Zuspielung 14:

„Gerade weil er direkte Kontakte ins Osmanische Reich hatte, hat er dann sogar mit Hilfe seiner Dorfbevölkerung ein Hilfswerk ins Leben gerufen und hat dann von diesem kleinen Harzdorf 1898 eine Teppichmanufaktur transferiert ins Osmanische Reich, um den überlebenden Witwen und Mädchen zu helfen und hat dann in der mesopotamischen Stadt Urfa diese erste Hilfsstation gegründet. Und dass er eine solche Autorität besaß auch in der Türkei, dass er z. B. bei Enver Pascha, dem osmanischen Kriegsminister, im August 1915 zu einem Streitgespräch vorgelassen wurde, das liegt daran, dass er schon eine bekannte Autorität war. Einerseits durchaus christliches Hilfsengagement, andererseits aber ein Kenner des osmanischen Reichs und der politischen Verhältnisse dort von Jugend auf – kann man sagen.“

Musik: Duduk 

 

Erzählerin:

Auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 wird über eine deutsche Mitschuld am Völkermord diskutiert. Um sich reinzuwaschen, gibt das Auswärtige Amt bei Johannes Lepsius ein Weißbuch in Auftrag. Dafür ediert er 444 Schriftstücke. Am Ende ist alles, was die deutsche Diplomatie belastet, aus dem Text verschwunden. Lepsius verringert sogar die Opferzahlen. Warum er das getan hat, das beschäftigt noch heute die Wissenschaft. Hermann Goltz:

Zuspielung 15:

„Es ist alles klar, nur es ist nicht alles bekannt. Z. B. kennt jeder, der sich mit der Sache beschäftigt, den Titel „Der Todesgang des armenischen Volkes“, es kennt jeder den Titel „ Deutschland und Armenien“ – das sind alles Dokumentationen, die Lepsius herausgegeben hat. Es ist ungefähr so wie die Forschungen über die Shoa. Dass die Grundzüge bekannt sind, und auch unwiderleglich bewiesen sind, dass es aber immer wieder die Möglichkeit gibt wichtige Einzelzüge zu erforschen.“

 

Erzählerin:

1919 wird in der Türkei der ehemalige Innenminister Talaat Pascha gemeinsam mit anderen führenden Mitgliedern der jungtürkischen Regierung in Abwesenheit als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt. Ihm war Anfang November 1918 die Flucht auf ein deutsches Kanonenboot gelungen. Wenig später kommt er nach Berlin, wo er unter falschem Namen drei Jahre lebt, bis er von dem armenischen Studenten Soronom Tehlirjan erschossen wird. Im Juni 1921 findet der Mordprozess vor dem Berliner Schwurgericht  statt. In der Verhandlung rollt das Gericht die gesamte Geschichte des Völkermords auf und spricht den Mörder frei. Im Publikum: der Jurastudent und spätere Ankläger der Nürnberger Prozesse Robert Kempner.

 

Musik Duduk

 

Dass es heute eine klare Definition des Begriffs „Völkermord“ gibt, hat ebenfalls mit den Massakern an den Armeniern zu tun. Für den Juristen Rafael Lemkin bildete der Völkermord an den osmanischen Christen und die Shoa im 2. Weltkrieg die empirische Grundlage seines Entwurfs der Völkermordkonvention, die 1948 von den Vereinten Nationen erlassen wurde.

 

Musik: Duduk

 

Dennoch bestreitet bis heute jede türkische Regierung, dass es sich bei den Massakern an den Armeniern um Völkermord handelt. Nach wie vor werden alle diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt, um zu verhindern, dass auf offizieller Ebene davon gesprochen wird, was 1915 und 1916 geschehen ist.

stopp