Rosatom – das unbekannte Wesen

Das Öko-Institut hat sich mit der Frage beschäftigt, wie es um die Abhängigkeit Europas von russischer nuklaer Technologie bestellt ist: „Europa ist auch bei der Kernenergie stark von Russland abhängig, vielleicht sogar noch stärker als beim Gas. Die Hauptquellen der Uranimporte in die EU waren 2020 Russland mit 20,2 Prozent, Niger mit 20,3, Kasachstan mit 19,2, Canada mit 18,4, Australien mit 13,3 und Namibia mit 3,8 Prozent. Nur 0,5 Prozent des in der EU eingesetzten Urans stammen aus der EU selbst. Doch das sieht nur scheinbar diversifiziert aus. Russland ist mit Kasachstan eng verbunden, die Minen in Niger gehören Firmen in chinesischem Staatsbesitz, das gilt auch für zwei der drei größten Uranbergwerke in Namibia. Die dritte namibische Mine ist überwiegend in chinesischem Eigentum. Damit kamen 2020 nur 32 Prozent der Uranimporte nach Europa von Firmen, die nicht im Staatsbesitz totalitärer Regime sind. Europa hat sich auch hier in eine hohe Importabhängigkeit begeben.

Etwa ein Viertel der Urananreicherung und Teile der Brennelementfertigung für die EU erfolgt in Russland. Viele Reaktoren russischer Bauart beziehen ihre Brennelemente auf Basis langfristiger Lieferverträge über zehn Jahre oder mehr hauptsächlich vom russischen Konzern TVEL (oder auch TWEL), der zu Rosatom gehört. Russische Kernreaktoren stehen in Bulgarien, der Tschechischen Republik, Finnland, Ungarn und der Slowakei. Die 16 älteren Druckwasserreaktoren des Typs WWER-440 sind bei der Brennstoffherstellung vollständig von TVEL abhängig. Solche alten Reaktoren stehen in Bulgarien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn. Diese Abhängigkeit betrachtet selbst die Europäische Nuklear-Versorgungsagentur (Euroatom-ESA) als signifikante Verwundbarkeit. Hier sind die Betreiber auch auf den Import von russischer Technik angewiesen. Aber auch die westeuropäischen AKWs sind nicht unabhängig. Der französische Konzern Areva arbeitet mit TVEL zusammen, um Brennelemente für sieben Reaktoren in Westeuropa zu liefern, etwa für das finnische AKW Loviisa. Noch im Dezember 2021 hat der französische Nuklearkonzern Framatome ein strategisches Kooperationsabkommen unterzeichnet für die Entwicklung der Brennstoffherstellung, die Instrumentierung und Kontrolle.

Der russische Brennelementehersteller TVEL wollte auch in die Brennelementfabrik in Lingen einsteigen, welche der französischen Firma ANF gehört. Lingen beliefert britische, französische und belgische Kernkraftwerke mit Brennelementen. Das Bundeskartellamt hatte diesen Einstieg im März 2021 genehmigt, danach prüfte das Wirtschaftsministerium mit offenem Ausgang bis Ende Januar 2022. Am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine hat das Wirtschaftsministerium bekannt gegeben, dass die Rosatom-Tochter TVEL ihren Antrag zurückgezogen habe. In Deutschland besitzt die Rosatom-Gruppe außerdem ihre Tochtergesellschaft NUKEM Technologies, die auf die Stilllegung kerntechnischer Anlagen, die Dekontamination, die Abfallverarbeitung und den Strahlenschutz spezialisiert ist. Sie plant und baut in Deutschland Lagergebäude für radioaktive Abfälle und ist am Rückbau der AKWs in Neckarwestheim und sowie Philippsburg beteiligt.

Putin hat also längst auch die europäische Nuklearindustrie von Russland abhängig gemacht und verdient selbst an der Stilllegung der deutschen Kernkraftwerke. Der Unterschied ist nur, dass die Abhängigkeit beim Gas öffentlich diskutiert wird, bei der Kernenergie bisher kaum. Doch die Mitgliedstaaten der EU denken gar nicht daran, diese nukleare Abhängigkeit zu beenden. Die zivilen nuklearen Aktivitäten wurden vom Verbot für Investitionen im russischen Energiesektor im Beschluss der Mitgliedstaaten vom 15. März 2022 über die Definition des Energiesektors explizit ausgenommen. Obwohl das Uran vollständig importiert wird und auch ein großer Teil der Brennelemente eingeführt wird, stuft die EU die Kernenergie als „einheimische“ Produktion ein, weil die Brennelemente gut bevorratet werden könnten. Hier findet sich ein ähnlicher orwellscher Sprachgebrauch wie bei der EU-Taxonomie, die die Kernenergie als Technologie ohne signifikante Umweltschäden einstuft. Wie die Süddeutsche Zeitung am 18. März 2022 berichtete, wurde sogar das Flugverbot für russische Fluggesellschaften in der EU für einen Flug für den Import von Kernbrennstoff in die Slowakei aufgehoben.

Unser Fazit zum Thema ist deshalb: Auch bei der Kernenergie muss die Abhängigkeit von Russland drastisch reduziert werden. Versorgungssicherheit ohne Abhängigkeit von totalitären Regierungen erfordert eine deutliche Reduktion der Kernenergie in Europa.

 

Anke Herold ist Geschäftsführerin des Öko-Instituts. Sie war Verhandlungsführerin für die EU bei den internationalen Klimaverhandlungen unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC). Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die internationale, europäische und nationale Klimapolitik. Dr. Roman Mendelevitch ist Experte für Energiesystem- und Strommarktmodellierung am Berliner Standort des Öko-Instituts. Er entwickelt Szenarien zur zukünftigen Stromerzeugung und entwirft marktbasierte Instrumente der Klimapolitik. Dr. Christoph Pistner leitet den Bereich Nukleartechnik & Anlagensicherheit am Öko-Institut. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung von kerntechnischen Anlagen. Er ist zudem stellvertretender Vorsitzender der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz.