Ethel Smyth

Das wahrscheinlich bekannteste Werk der englischen Komponisten Ethel Smyth ist die Hymne der Suffragetten: „The March of the women“. Den Text schrieb die Dichterin und Journalistin Cicely Hamilton.  Eine  Aufführung dieses Liedes der besonderen Art fand statt, nachdem zahlreiche britische Frauenrechtlerinnen 1912 im Londoner Gefängnis Holloway inhaftiert wurden. Der britische Dirigent Thomas Beecham, besuchte damals die Komponistin Smyth im Gefängnis: Ich kam im Gefängnishof an und fand die edle Gruppe der Märtyrerinnen vor, wie sie dort auf und ab marschierten und mit Herzenslust ihr Kriegslied „March of the Women“ sangen, während die Komponistin wohlwollend aus einem der oberen Fenster zusah und dazu mit bacchantischer Energie den Takt mit einer Zahnbürste schlug. rauen
Komponiert hatte Ethel Smyth die Hymne 1910, um die  Haftentlassung der vielen Frauen zu feiern, die am Schwarzen Freitag verhaftet worden waren.
Viele Jahre später, 1930, als der Kampf endlich gewonnen war, wird zu Ehren von Emmeline Pankhurst vor dem britischen Parlamentsgebäude eine Statue errichtet. Bei der feierlichen Enthüllung spielt das Orchester der Londoner Polizei unter Leitung von Ethel Smyth die Hymne der Suffragetten „March of the Women“.
Im Verlag Ebersbach und Simon erscheint im August 2023 die Biografie von Ethel Smyth. Herausgegeben und übersetzt von Heddi Feilhauer, 238 Seiten, 24,00 Euro.

Mein Feature trägt den Titel:
Die Suffragetten – der erbitterte Kampf ums Frauenwahlrecht in England
1910 berichteten weltweit  Zeitungen über zusammengeschlagene Frauen, denen das Blut auf ihre weißen Kleider tropfte. Am „Schwarzen Freitag“ war es vor dem Parlament in London zu den ersten blutigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrantinnen für das Frauenwahlrecht gekommen. In keinem anderen Land nahm dieser  Kampf derartige Formen an wie in England. Die Staatsmacht reagierte mit nie dagewesener Brutalität. Warum wehrte sich das Land mit der längsten  parlamentarischen Tradition in Europa so vehement gegen das Recht der Frauen genauso wie Männer die Abgeordneten des Parlaments zu wählen?

Musik: „March of the women“ (CD 288910/1 oder  CD 103080/9)
“Shout, shout, up with your song! Cry with the wind for the dawn is breaking; March, march, swing you along, Wide blows our banner and hope is waking. Song with its story, dreams with their glory, Lo! they call, and glad is their word! Loud and louder it swells, Thunder of freedom, the voice of the Lord!” (Text: Cecily Hamilton, 1872 -1952)

Die Hymne der Frauenstimmrechtsbewegung – das berühmteste Werk der englischen Komponistin Ethel Smyth.

Zitatorin:
„Sie waren endlich aufgewacht, sie waren bereit, etwas zu tun, was Frauen niemals zuvor  getan haben – kämpfen für sich selbst. Frauen haben immer gekämpft – für Männer, für ihre Kinder. Nun waren sie endlich bereit, für ihre eigenen Menschenrechte zu kämpfen.“

Sagt Emmeline Pankhurst 1906, als sie wieder einmal mit Gleichgesinnten vor das Parlament zieht. Emmeline Pankhurst ist die große Anführerin des militanten Flügels der britischen Frauenstimmrechtsbewegung. Sie und Ethel Smyth kämpfen gemeinsam, leben einige Zeit zusammen und üben gemeinsam sogar das Einwerfen von Fensterscheiben.

Zitatorin:

„Wir warfen alle konventionellen Vorstellungen von „ladylike“ und guten Umgangsformen über Bord, und wir prüften unsere Methoden lediglich unter dem Gesichtspunkt: Hilft es?“

„Man muss sich das mal vorstellen, das waren vorwiegend Frauen der Mittel- und Oberschicht. Das waren reiche Ladies, die die Parlamentarier persönlich kannten, vor denen die Polizisten normalerweise artig gegrüßt haben.“

Diese Ladies demonstrieren ein halbes Jahrhundert für die Einführung des Frauenwahlrechts. Bei jeder Eröffnung des Parlaments marschieren sie auf. Meist tragen sie lange weiße Kleider mit einer Schärpe, auf der steht: „Votes for women“ – „Für das Frauenwahlrecht!“ In die Geschichte sind sie als Suffragetten eingegangen. Der Begriff kommt vom lateinischen „suffragium“, das so viel wie „politisches Stimmrecht“ bedeutet. Die Ladies demonstrieren aber nicht nur, sie setzen auch ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel:   

„Und die hat man plötzlich geschlagen, und zwar mit einer großen Vehemenz. Man hat da überhaupt nicht mehr Rücksicht genommen. Ich denk, die Frauen waren am Anfang ziemlich perplex, denn sie waren es ja gewöhnt, dass man sie respektvoll behandelte. Sie haben schon auch damit gerechnet, dass ihnen ihre gesellschaftliche Stellung Schutz bieten würde.  Man sieht ja auf den Bildern, die Frauen sind höchst elegant gekleidet, mit großen Hüten, manche in Abendgarderobe. Das hat aber die Polizei nicht davon abgehalten, sie da zusammenzuschlagen.  Und dass die Suffragetten sich dann nicht zurückgezogen haben, sondern weitergemacht haben, das zeigt doch wie ernst ihnen die Sache war, und was sie bereit waren dafür auch auf sich zu nehmen.“

Sagt Michaela Karl, die sich als Politologin mit den verschiedenen Facetten der britischen Frauenstimmrechtsrechtbewegung beschäftigt.

Auch alle nicht adligen Männer müssen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts um das Wahlrecht kämpfen. Ihnen wird die politische Partizipation allerdings peu à peu gestattet.

Während die gemäßigten Stimmrechtsvereine außerdem noch Verbesserungen in der Mädchenbildung, im Gesundheitsschutz für Prostituierte und gerechtere Löhne für Arbeiterinnen fordern, geht es den militanten Suffragetten um Emmeline Pankhurst ausschließlich um das Frauenwahlrecht. 

Musik: „March of the women“ 

Am 19. November 1910, am „Schwarzen Freitag“, kommt es vor dem Parlament in London zu den bis dahin schwersten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Frauen. Zwei von ihnen sterben, nachdem sie von Polizisten niedergeschlagen worden sind. Zeitungen weltweit berichten über verletzte Frauen, deren Blut auf ihre weißen Kleider tropft.

Warum wehrt sich in dem europäischen Land mit der längsten parlamentarischen Tradition die Regierung so vehement gegen das Recht der Frauen, die Mitglieder des Unterhauses zu wählen? Aus politischen Gründen, sagt Michaela Karl. Konservative und Liberale befürchten vor allem eine Stärkung des Gegners. Es hat sich nämlich eine dritte Partei gegründet: die Labour Party:  

„Denn würde man Millionen Frauen das Wahlrecht gestatten, dann würde das eine Veränderung der Parteienlandschaft mit sich bringen. Und damit würde es auch zu einer Veränderung der Politik kommen – das war klar. Die Gegner des Frauenstimmrechts waren generell oft auch Gegner eines erweiterten Wahlrechts im Allgemeinen. Sie wollten auch nicht noch weitere Männer dran teilhaben lassen. Die Idee, dass jede Person ab 21 das Wahlrecht bekäme, das würde Millionen von Armen und Mittellosen auch die Möglichkeit zur politischen Mitbestimmung geben. Und wenn Arme, Arbeiter und auch noch Frauen plötzlich mit wählen würden, dann hätte dies – so war man der Ansicht – gerade für das Empire gewaltige politische Konsequenzen.“

Im 19. Jahrhundert wird das Wahlrecht in Großbritannien drei Mal geändert. Das Oberhaus verliert an Einfluss und das Parlament – das Unterhaus – wird zur wichtigsten politischen Institution. Wollen Frauen Reformen für sich erreichen, müssen sie Teil dieser wichtigen Institution werden.       

„Mit dieser Forderung nach politischer Gleichheit, da haben die Frauen an den Grundpfeilern des Systems gerüttelt. Frauen schienen damals einfach prädestiniert für den privaten Bereich, für das Haus, für die Kinder, für die Unterhaltung des Ehemannes, während die Männer den öffentlichen  Bereich, den politischen Bereich übernahmen. Und  die Idee, dass Frauen jetzt in diesen politischen Bereich drängten, das stellte das Weltbild dieser Gesellschaft auf den Kopf. Und das widersprach natürlich bis ins Letzte der Philosophie der zwei getrennten Sphären,

und es sah nicht nur die Politik so, das sah die Gesellschaft so, dass sah die Kirche so, das sahen die Gewerkschaften so. Da waren sich alle Männer einig.

Denn in jener Zeit war es eine unumstößliche Tatsache, dass Frauen und Männer nicht nur unterschiedlich, sondern, dass Frauen auch dümmer waren als Männer. Ein Charles Darwin z.B. war der Ansicht, dass die Emotionalität von Frauen typisch für Kinder und niedere Rassen wäre.  Wie sollte man solchen Personen dann die Entscheidung über Krieg und Frieden übertragen?“
In keinem anderen Land nimmt der Kampf um das Frauenstimmrecht derartige Formen an wie in England. Die Staatsmacht reagiert mit nie da gewesener Gewalt auf die Suffragetten. Dabei kommt es auch immer wieder zu sexuellen Übergriffen:    

„Die Polizisten haben sich so verhalten, der Mob hat sich so verhalten. Die Frauen sind ja auch von Leuten auf der Straße angegriffen worden. Und da war es schon sehr beliebt, die Frauen zu betatschen in diesem ganzen Kuddelmuddel. Und grad im Gefängnis mit der Zwangsernährung – das ist natürlich schon gewaltig gewesen. Das ist wirklich ne gewaltsame Ermächtigung des Körpers durch einen Fremden. Das haben viele sicher als eine Art Vergewaltigung empfunden.  Sie waren völlig hilflos, völlig ausgeliefert dieser Gewalt, gerade wenn Frauen auf Männer getroffen sind, dann hat es immer Übergriffe gegeben.  Gegenüber diesen Frauen, die ja niemandem was getan haben, die ganz friedlich waren, und die nur für ein Bürgerrecht kämpften. Dass man denen mit so einem großen Hass begegnete, das lässt schon tief blicken,  was man für ne Einstellung zu den Frauen hatte.“

„Die Polizei hat euch angegriffen?, fragte Frances alarmiert. „Ich hab so etwas noch nie erlebt“, schluchzte Louise, „dass Männer mit so einer Brutalität gegen Frauen losgehen. Sie haben Frauen in Hauseingänge getrieben und sie dort zusammengeschlagen. Sie haben sie zu Boden geworfen und sie getreten, wohin sie nur trafen. Sie haben sie an den Haaren gerissen und gezielt auf die Brüste geschlagen. Ich hatte das Gefühl, sie wollten uns umbringen.“ Louise zitterte. „Ich werde das nie vergessen, nie solange ich lebe“, flüsterte sie. „Wir wollen das Stimmrecht, wir wollen ein Recht, das Männern seit Jahrhunderten zusteht und dafür behandeln sie uns wie Kriminelle.“
Die Schriftstellerin Charlotte Link hat Erlebnisse der Suffragetten in ihrem Roman „Das Haus der Schwestern“. verarbeitet. Ihre Protagonistin Frances fährt noch am selben Abend zum Londoner Frauengefängnis Holloway, in das eine ihrer Freundinnen gebracht wurde. Dort gerät sie selbst in den Strudel der Ereignisse und wird verhaftet.

„Eine Aufseherin erschien. „Diese Dame hier hat Fieber“. Pamela wies auf Frances. „Wenn sie ernsthaft erkrankt, werden wir Sie zur Rechenschaft ziehen.“ Die Aufseherin war nicht so leicht einzuschüchtern. „Offenbar ist sie gesund genug, sich bei diesem Wetter auf der Straße herumzutreiben und zu randalieren.“

Für die vier Frauen in der Gefängniszelle gilt der Beschluss der Suffragetten, sofort in den Hungerstreik zu treten. Frances wird als erste abgeholt.

„Haltet sie bloß gut fest, das ist wieder so eine Wildkatze!“ Starke Arme pressten ihre Handgelenke auf die Stuhllehnen, in Lederhandschuhe gehüllte Hände griffen unter ihr Kinn, bogen ihren Kopf zurück, andere Hände zerrten ihr mit einem Ruck die Kiefer auseinander. „So und jetzt richtig tief rein mit ihm!“ sagte jemand und eine Frau gab ein dreckiges Lachen von sich.

Frances hatte plötzlich einen widerlichen Geschmack von Gummi auf der Zunge und im nächsten Moment spürte sie einen unwiderstehlichen Brechreiz. Sie brach in Panik aus, weil ihr klar war, dass sie ersticken würde, wenn sie sich jetzt übergab. Der raue, dicke Schlauch in ihrer Speiseröhre schmerzte entsetzlich. Als sie fertig waren, zogen sie den Schlauch zurück. Es tat mörderisch weh, es brannte wie Feuer und hinterließ ihren Körper wund und zerschlagen.“

„Das  mit dem Zwangsernähren, ich glaube nicht, dass man niemanden sterben lassen wollte,  sondern, dass man ganz einfach diesen Zirkus mit dem Hungerstreik abschaffen wollte. Man wollte so ein Bedrohungspotential schaffen, dass die Frauen sich das gut überlegen, ob sie überhaupt in den Hungerstreik treten sollten, oder ob sie sich ganz einfach ordentlich im Gefängnis verhalten würden. Viele hatten sicher große Angst vor dieser Zwangsernährung. Man hätte  die Frauen ja auch ganz einfach – wie man es später gemacht  hat  – entlassen können.  Aber das wollte man eben nicht, man wollte diese Strafe unbedingt vollziehen.“

Mit der Zwangsernährung reagiert die Regierung auf den Hungerstreik der inhaftierten Suffragetten. Die wiederum wollen mit dem Hungerstreik die Anerkennung als politische Gefangene erreichen. Wissenschaftlerinnen schätzen, dass rund 1000 Frauen zwangsernährt wurden.

Zu Beginn des Kampfes, Mitte des 19. Jahrhunderts, lehnen die meisten Briten – Männer wie Frauen – das Wahlrecht für Frauen ab. Das ändert sich im Laufe der Zeit, dank Jahrzehnte langer Aufklärungsarbeit, unzähliger Resolutionen und Demonstrationen.

„Die Stimmung ist in dem Maße umgeschwenkt, wie die Regierung so hilflos reagiert hat, so radikal und brutal gewesen ist, haben sich doch immer mehr Leute auf die Seite der Frauen gestellt und haben das dann tatsächlich als legitime Forderung verstanden.“

Also es hat sich bis zum 1. Weltkrieg immer mehr gedreht und immer mehr Männer sind auch dann tatsächlich der Ansicht gewesen, die Frauen brauchen das Stimmrecht.“

Dennoch sind es nur einzelne Abgeordnete des Unterhauses, wie der Rechtsanwalt Richard Pankhurst, die immer wieder Gesetzentwürfe einbringen, um das Frauenwahlrecht durchzusetzen. Richard ist der Ehemann von Emmeline und Vater von Christabel und Sylvia – den drei Heroinen der Bewegung.

Emmeline Pankhurst stammt aus einer politisch aktiven Familie. Ihre Eltern setzen sich in England für die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten der USA ein. 1872, mit 14 Jahren, ist sie das erste Mal auf einer Versammlung der Frauenstimmrechtsbewegung: 

„Sie war eine elegante Lady, ne elegante Witwe dann auch. Dass sie dann so radikal wurde, das hat, glaube ich, einfach mit dieser Bewegung zu tun, der sie sich verschrieben hatte. Und ihre Töchter sind ihr ja in nichts nachgestanden an Radikalität und an Mut. Die Frauen haben die drei ja wirklich geliebt. Denn Emmeline und ihre Töchter Christabel und Sylvia – das waren wirklich sehr faszinierende Frauen mit enormem Charisma, mit großer Hingabe und unbedingtem Einsatzwillen.“

1903 – nachdem erneut eine Gesetzesvorlage im Parlament gescheitert ist, gründet Emmeline Pankhurst ihre eigene Organisation – „the Women Social and Political Union“ – die soziale und politische Frauenunion. Die WSPU ist eine radikale, fast schon religiöse Gruppierung. Emmeline ist unangefochten die große Führerin, Tochter Sylvia gilt als der Engel der Armen. Christabel wird als die Königin des Mobs bezeichnet. Sie ist so berühmt, dass sie schon zu Lebzeiten bei Madame Tussauds eine Wachsfigur bekommt.  

„Ihrem Selbstverständnis nach war die WSPU eine Armee, eine Armee im Krieg und zwar eine Untergrundarmee. Und für diesen Kampf in der Illegalität da schien ein starker Zentralismus und eine strikte Führung überlebensnotwendig.“
Die WSPU ist eine relativ kleine Organisation mit ein paar Tausend Mitgliedern. In den gemäßigteren Stimmrechtsvereinen dagegen sind Hunderttausende organisiert. Auf der ersten großen Suffragetten-Demonstration im Juni 1908 sind eine halbe Million Frauen auf der Straße – eine der größten Demonstrationen, die Großbritannien bis dahin gesehen hat.

Inzwischen ist es populär, an Frauendemonstrationen teilzunehmen. Im Musical „Mary Poppins“, das Anfang des 20. Jahrhunderts in England spielt, wird den Suffragetten ein musikalisches Denkmal gesetzt. Mary Poppins hütet die beiden Kinder von Winifred Banks, während die zu den Versammlungen der Suffragetten geht:
Musik: „Schwester Suffragette“

Doch die Regierung bleibt bei ihrem „Nein“. Nach dem Vorbild männlicher Politaktivisten beginnen die Frauen nun mit Aktionen, die vor allem eines sollen – Aufsehen erregen und die Titelseiten der Zeitungen füllen:

„Kein Stimmrecht – kein Golf!“ …graben Suffragetten etwa in die Rasenflächen eines Golfclubs.

„Wird die liberale Regierung den Frauen das Wahlrecht geben?“  Die Frage lehrt männliche Politiker allmählich das Fürchten. Zu allen Wahlveranstaltungen, zu allen Zusammenkünften – vor allem der Liberalen – verschaffen sich einzelne Suffragetten Zutritt, und stellten diese eine Frage. Die Folgen sind immer gleich: Tumult, Rauswurf, Verhaftung, Gefängnis, Schlagzeilen in der Presse.  

„Männliche Wahlkämpfer haben ihnen ja diese Strategie von begrenzter Militanz bereits vorexerziert und die Suffragetten taten es ihnen jetzt  nach, in der Hoffnung, auch das Wahlrecht zu erreichen. Die Staatsgewalt hat nun ihrerseits auf diesen zivilen Ungehorsam mit äußerster Härte reagiert und hat die Frauen meiner Ansicht nach förmlich dazu gezwungen, immer radikaler zu werden. Denn bis die Suffragetten ihren Guerillakampf gegen die Regierung so richtig begannen, da haben auch sie es lange noch mit passivem Widerstand versucht. Und auf diesen friedlichen  Protest hin da hat die Regierung mit Gewalt, Gefängnis, Zwangsernährung reagiert. Die Frauen haben Schläge, Hungerstreik, Spott und Hohn ertragen und sind dem Wahlrecht eigentlich kein Stückchen näher gekommen.

Und  erst 1912 hat ja die WSPU die Zerstörung von Eigentum dann zu ihrer offiziellen Politik erklärt. Welche Ausmaße das annehmen würde, war damals noch gar nicht absehbar. Für die Suffragetten hat immer der Staat die Höhe der Gewalt bestimmt. Klar war nur: sie würden auf keinen Fall weichen.“

Im Gefängnis werden nicht alle Suffragetten gleich behandelt. Die prominenten Aktivistinnen oder Adlige dürfen ihre eigenen Kleider behalten, sie werden auch nicht an den Haaren über Gefängnisflure geschleift und sie werden nicht zwangsernährt. Lady Constance Lytton gelingt es, die britische Justiz als Klassenjustiz zu entlarven. Sie stammt aus einer hochangesehen britischen Familie, hat ihr gesamtes Vermögen in die Frauenunion von Emmeline Pankhurst investiert. Als sie zum wiederholten Mal verhaftet wird, gibt sie sich als Arbeiterin aus. Sie wird geschlagen, getreten und zwangsernährt. Nach fünf Tagen wird ihre wahre Identität entdeckt, eine völlig apathische Frau vorzeitig aus der Haft entlassen. Der Skandal ist nicht mehr aufzuhalten. Die Tochter des britischen Vizekönigs in Indien malträtiert, geschunden, nur weil sie für das Frauenstimmrecht demonstriert hat! Constance Lytton hält Reden im ganzen Land, klagt die Verantwortlichen an.    

„Constance Lytton hatte sehr viele einflussreiche Freunde und die Empörung war riesengroß und sie war ja auch ne prominente Frau. Ich glaub, da hat man in vielen Kreisen das erst einmal richtig zur Kenntnis genommen, was da abgeht, was da tatsächlich passiert. So eine prominente Frau, dass man die so behandelt, also da war das einfach ein Skandal und das hat sicher geholfen. Noch mehr hat aber geholfen, dass die Liberalen bei den nächsten Wahlen fast hundert Sitze verloren haben. Das war sicher das Entscheidende. Die haben einfach um ihre Regierung gefürchtet, wenn das so weitergeht.“

„Wir wollen keine unnötig starken Waffen einsetzen. Wenn der Stein, dieses altehrwürdige Argument offizieller Politik ausreicht, dann werden wir niemals ein stärkeres Argument einsetzen.“ Erklärt Emmeline Pankhurst 1912 im Hauptquartier der WSPU in London, vom Volksmund „Guerilla Tearoom“ genannt. Was sie damit meint, erfährt die Öffentlichkeit am 1. März 1912: im Viertelstundentakt gehen in ganz London Fensterscheiben zu Bruch: in Straßen und auf Plätzen, an Regierungsgebäuden und Ladengeschäften. Das ist genau geplant und wird strategisch durchgeführt. Das Einschlagen von Scheiben als Zeichen des Widerstands hat in England eine lange Tradition, es wird landesweit auch so verstanden, sagt Michaela Karl. Bomben detonieren, Briefkästen werden mit Säure übergossen und öffentliche Verkehrsmittel zerstört.  

„Die Frauen wollten einfach die Situation im Land – auch für Unbeteiligte – so unerträglich werden lassen –  dass der Druck von der Straße die Regierung letztlich zum Handeln zwingen sollte. Das Problem der ganzen Sache war nur, dass  so eine Strategie wirkungslos ist, wenn sie nicht permanent gesteigert wird. Und vor dem  1.Weltkrieg war es dann ja so, dass die Gewalt derart eskaliert ist, dass es nur mehr ne Steigerung  in Form von Attentaten  möglich gewesen wär.  Und  nachdem schließlich die Zerstörung von Eigentum in wirklich riesigem Ausmaß mit exorbitanten Schadsummen immer noch kein Ergebnis brachte, war es tatsächlich dann nur ne Frage der Zeit bis die Bewegung auch eine erste Märtyrerin finden würde. Man sah sich im Krieg und war entschlossen, bis zum bitteren Ende zu kämpfen.“

Das ist am 4. Juni 1913 der Fall: Emily Wilding Davison wirft sich beim Pferderennen in Epsom vor das Pferd von König George. Sie versteht dieses Opfer als Fanal für die Stimmrechtsbewegung. Sie ist zwar nicht die erste tote Suffragette, aber ihr Tod beschäftigt wochenlang die öffentliche Diskussion, ihr Begräbnis wird zu einem der letzten Großereignisse der Bewegung. Abertausende säumen in den Farben der Suffragetten die Straßen, als ihr Sarg, von einer Ehrenwache begleitet, durch London gezogen wird.     

„In späteren Jahren hat man dann festgestellt, dass sich einzelne Parlamentarier oder auch der Premierminister tatsächlich bedroht fühlten. Die haben geglaubt, die Frauen würden soweit gehen und Attentate auf sie verüben.“

Finanziell geht es der Bewegung immer recht gut. Mitglieder spenden ihre Privatvermögen, begüterte Sympathisanten – männlich wie weiblich – geben sehr viel Geld. Dazu kommen Einnahmen aus dem Verkauf der Zeitung „The Suffragette“ und dem Merchandising. Damit sind die Frauen ihrer Zeit weit voraus. Es gibt fast nichts, das nicht in den Farben der Stimmrechtsbewegung – weiß, grün und violett – hergestellt wird: von der Bettwäsche bis zum Nippes. Seit der ersten großen Demonstration 1908 taucht die weiß-grün-violette Trikolore auf. Es gilt als schick, in diesen Farben herumzulaufen.     

„Man hat sich überlegt, was hat jede Frauen zu Hause – ein weißes Kleid, eine weiße Bluse, ein weißer Leinenrock – das hatte man einfach. Dann war Grün ne gern getragene Farbe und Violett war damals auch ne Farbe, die sehr modisch war. Und das ist dann überall auf den Straßen aufgetaucht. Man hat Frauen in grünen Kostümen gesehen mit violetten Borten. Auch die Modemacher der damaligen Zeit haben das gleich aufgegriffen, und haben daraus tatsächlich ne Modelinie gemacht. Man hat alle möglichen Accessoires daraus gefertigt. Die Suffragetten haben bei ihren Hochzeiten Brautsträuße in diesen Farben getragen und sogar die Männer konnten sich solidarisch zeigen und zwar durch Hutbänder oder durch Krawatten in diesen Farben – in dieser Trikolore.“

Die Symbolkraft der drei Farben wird propagandistisch ausgeschlachtet: Weiß steht für die Unschuld der Frauen, Grün für die Hoffnung und Violett für die Würde. Auch dass es drei Farben sind, hat Bedeutung. Seit der Französischen Revolution ist die Trikolore das Symbol einer Freiheitsbewegung.

1918, nach dem Ende des 1.Weltkriegs, erhalten die Frauen das Wahlrecht – aber nicht alle. Nur wer älter als 30 ist, darf wählen. Erst 1928 wird auch für Frauen das Wahlalter auf 21 Jahre gesenkt.

Von den Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht schafft es keine einzige, ein Parlamentsmandat zu erringen.       

„Die Frauen sind tatsächlich ganz unterschiedliche Wege gegangen. Die meisten haben sich unbemerkt wieder in die Gesellschaft eingegliedert. Das ist für mich ehrlich gesagt das Unglaublichste. Denn wenn man jahrelang ein Leben zwischen allen Stühlen führt, einsam im Alltag und nur verbunden mit den anderen Suffragetten, dann ist es doch sehr, sehr schwierig, wieder in den normalen Alltag zu finden. Die Frauen  waren ja Geächtete, Aussätzige gewesen. Man hat sie als verrückt und anormal abgestempelt, als Psychopathinnen gescholten, die man vor sich selbst und vor denen  man natürlich die Gesellschaft schützen muss. Sie wurden auf der Straße bespuckt und geschlagen und gedemütigt. Sie haben Drohbriefe erhalten, haben ohnmächtig mit ansehen müssen, wie man auch ihre Familien bedroht hat.  Sie wurden von der Polizei auf Schritt und Tritt überwacht, Briefe hat man geöffnet, ihre Häuser sind durchsucht worden, das Leben war ein einziges Versteckspiel. Sie hatten keinerlei Privatsphäre mehr.  Und sie  haben in den langen Jahren des Kampfes  ja nicht nur ihren guten Ruf  verloren, auch ihre Gesundheit und ihr Leben haben sie da riskiert. Sie haben ihr persönliches Glück vielfach geopfert. Viele Angehörige und Freunde hatten keinerlei Verständnis für den Kampf der Frauen.

Im Endeffekt war diese gemeinsame Erfahrung der Ächtung und Unterdrückung – die hat sie zusammen geschweißt als Suffragetten in der Bewegung.

Und diese eingeschworene Gemeinschaft hat die familiären Bande und alle anderen sozialen Kontakte eigentlich ersetzt. Sie haben sich schon auch als Avantgarde gesehen. Und der Habitus der Suffragetten hat schon auch elitäre Züge. Und ich finde es nicht verwunderlich, dass sich viele Suffragetten tatsächlich in religiösen Bewegungen dann wiederfanden und dann ihre ganze Kraft da hineingesteckt haben.“

Christabel Pankhurst geht später in die USA und wird Mitglied der evangelikalen Adventistenbewegung. Ihre Schwester Sylvia ist weiter politisch aktiv und gehört zu den Mitbegründern der Kommunistischen Partei Großbritanniens. Emmeline Pankhurst scheitert bei den Unterhauswahlen, sie stirbt 1928. An ihrem Sarg halten ehemalige Suffragetten eine Ehrenwache. Zwei Jahre später, 1930, wird ihr zu Ehren vor dem britischen Parlamentsgebäude eine Statue errichtet. Bei der feierlichen Enthüllung spielt das Orchester der Londoner Polizei unter Leitung von Ethel Smyth die Hymne der Suffragetten „March of the Women“.//
Diese Sendung wurde u.a. im rbb-Kulturradio am 30.07. 2013  gesendet.