Dank des Ukraine Kriegs darf die alte Blockkonfrontation wieder aufleben. Hat da womöglich heute noch jemand was dagegen, wenn zur Ölgewinnung ganze Landstriche verwüstet werden? Naja und wenn schon – in Ceta ist festgelegt, dass die Kanadier Öl aus Ölsand nicht deklarieren müssen.
Nun ja, das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2022 alle Einsprüche gegen Ceta zurückgewiesen und das Abkommen für grundgesetzkonform erklärt – mit einigen kleinen Ausnahmen: z.B. die Schiedsgerichte – das finden die RichterInnen in den roten Roben nicht witzig. Deutschland müsste Hoheitsrechte an die EU abtreten. Tja. Aber klagen geht erst, wenn Ceta tatsächlich komplett in Kraft ist und so ein Schiedsgerichtsverfahren anhängig ist. Die Grünen winken – „huhuhu der Putin“ – alles durch – man sieht keine Defizite mehr in Sachen Umweltschutz (war da was?) und Verbraucherschutz.
Allerdings wird Ceta noch ne Weile in der Warteschleife verharren, weil nach wie vor ca. 10 EU Mitglieder das Machwerk nicht ratifiziert haben.
Meine letzte Sendung ging über Ceta und den Widerstand dagegen. Ich habe Marianne Grimmenstein portätiert, die in den meisten Zeitungen 2016 als „Flötenlehrerin aus Lüdenscheid“ firmierte, was garantiert nicht als Lob gemeint war. Immerhin hat die Rentnerin – ganz old school mäßig – von 68 000 Bürgerinnen und Bürgern schriftliche (analoge) Vollmachten bekommen. Das muss frau erst einmal hinkriegen und dann auch noch das Geld zu sammeln, um den Verfassungsrechtler Andreas Fisahn und sein Team bezahlen zu können. Marianne Grimmenstein ist ihre Unabhängigkeit wichtig, deshalb habe ich dem Feature ein Zitat von ihr als Titel gegeben: „Ich bin ein freies Elektron“.
Regie O-Ton Take 01
„Die Botschaft dieses Tages …wir sind die kraftvollste Bewegung …los geht‘s“
Im Gegensatz zu den lautstarken Unmutsäußerungen auf der Straße, kämpft Marianne Grimmenstein von ihrem Wohnzimmer aus gegen die Freihandelsabkommen. 68 000 Bürgerinnen und Bürger haben sie bevollmächtigt in ihrem Namen gegen CETA vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
CETA ist wichtiger als TTIP, sagt Marianne Grimmenstein. CETA, das Abkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada, gilt als Vorlage für TTIP. Alle Regelungen, die in CETA verankert sind, werden auch in dem Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU gelten. Aber selbst wenn TTIP nicht zu Stande kommen sollte, wäre es für us-amerikanische Firmen kein Problem. Sie müssen lediglich in Kanada, kurz hinter der Grenze eine Niederlassung oder eine Briefkastenfirma gründen und schon fallen sie in den Geltungsbereich von CETA. TTIP wird also auf gewisse Art überflüssig, wenn CETA in Kraft gesetzt wird.
Marianne Grimmenstein stört besonders der ausgeprägte Schutz von Investoren. Konzerne können Staaten bereits verklagen, wenn sie durch Gesetze Gewinneinbußen befürchten. So hat die Zigarettenindustrie bereits erfolgreich gegen Staaten geklagt, die den Nichtraucherschutz verbessern wollten. Das widerspricht dem Grundgesetz, empört sich Marianne Grimmenstein:
„Laut Grundgesetz müssten die Investoren auch in die Pflicht genommen werden, aber das wird in CETA bisher nicht geregelt. Welche Pflichten die Investoren haben, nur die Rechte. Und das ist ein eindeutiger Verstoß gegen das Grundgesetz.“
Marianne Grimmenstein ist 70 Jahre alt und zu ihrer Lektüre zählt unter anderem das Grundgesetz. So wie andere Menschen immer mal wieder in der Bibel lesen, holt sie ab und zu den Text der deutschen Verfassung aus dem Bücherschrank. Deshalb treibt sie ein Punkt bei den Freihandelsabkommen besonders um: Die Verträge sind so konstruiert, dass sie das Grundgesetz aushebeln können, sie können sogar die Parlamente entmachten und ersetzen Gesetzgebungsverfahren durch Absprachen. Durch Absprachen, die all zu oft in Hinterzimmern getroffen werden.
Vor drei Jahren hat sie sich so über das angestrebte Freihandelsabkommen CETA geärgert, dass sie sich hinsetzte und eine Verfassungsbeschwerde formulierte:
„Ein Artikel hat mich sehr wach gerüttelt in der LeMonde diplomatique. Und dann auch später ein verfassungsrechtlicher Artikel von Professor Flessner. Und dieser Artikel hat praktisch mich befeuert eine Verfassungsbeschwerde selbst einzureichen 2014.“
Der emeritierte Juraprofessor von der Humboldt Universität hatte einen Text über den geplanten Investorenschutz und die vorgesehenen Schiedsgerichte geschrieben und über die Möglichkeiten wie das Bundesverfassungsgericht das Ganze doch noch verhindern kann. Über Politik zu diskutieren ist Marianne Grimmenstein von frühester Jugend an in ihrem Elternhaus in Budapest gewöhnt, ihr Akzent verrät ihre ungarische Herkunft:
„Ich betone immer wieder, ich komme aus einer Juristenfamilie. Und so bin ich auch Hobbyjuristin. Und ich bin in der Lage eine Klage zu formulieren. Also in der ersten Verfassungsbeschwerde hab ich also Grundgesetz, Völkerrecht, EU-Recht benutzt. Hab ich also viele internationale Gesetze nachgeguckt und mein Text ist eigentlich so gut, dass ich vor ein paar Monaten von einem fremden Mann aus Hamburg diesen Text zugeschickt bekommen habe und hat er mich gefragt, ob ich diesen Text kenne, und ob diese Verfassungsbeschwerde schon benutzt wurde. Und dann hab ich wirklich darüber gelacht, weil das war mein eigener Text.“
Ihre Klageschrift hatte sie damals online gestellt und für Alle freigegeben, so dass unter anderem auch viele Rechtsanwälte ihren Text benutzten. Ihre erste Verfassungsbeschwerde vom Sommer 2014 hat den Stein dann ins Rollen gebracht:
„Ab dem Moment, wo ich meine Verfassungsbeschwerde eingereicht habe, habe ich auch den Text freigegeben und ich habe ganz viele Leute damit mobilisiert selber diesen Text zu benutzen und auch eine Verfassungsbeschwerde einzureichen. Und ein TAZ-Journalist wurde auf mich aufmerksam und hat über mich einen Artikel geschrieben. Und darauf hat sich Change.org, diese Petitionsseite gemeldet, dass die mich unterstützen wollen.“
Damals hatte sie 231 Menschen gewinnen können, sich ihrer Klage anzuschließen. Ihr Antrag beim Bundesverfassungsgericht kam allerdings zu früh und wurde abgewiesen. Aber die Idee zum höchsten deutschen Gericht zu gehen, war damit in der Welt und dieses Projekt hat sie seitdem nicht mehr losgelassen:
Mozart Klaviersuite
40 Jahre lang war Marianne Grimmenstein Lehrerin für Querflöte an der Kommunalen Musikschule in Lüdenscheid. Selbstverständlich steht in ihrem Wohnzimmer auch ein Klavier. Etwas Blockflöte und Gitarre kann ich auch, sagt sie und lacht. Zu ihren Lieblingskomponisten gehört Wolfgang Amadeus Mozart. Deshalb begleiten uns durch diesen handelspolitischen Kulturtermin Ausschnitte aus Mozarts Klaviersuiten.
Mozart Klaviersuite
„Musik ist mein Ausgleich zu meinen vielseitigen anderen Interessen, also ich betrachte wirklich meinen Beruf als Entspannung.“
Vor ungefähr 10 Jahren begann sie sich umfassend mit politischen Alternativen zur Regierungspolitik zu beschäftigen. Anlass war eine Rede der Kanzlerin zum 13. Jahrestag der Deutschen Wiedervereinigung. Angela Merkel hatte ihrer Rede den Titel: „Quo vadis Deutschland?“ gegeben. Was sich mit: Wohin entwickelt sich Deutschland? übersetzen lässt. Marianne Grimmenstein stellte diese Frage mehreren Tausend Menschen und bat sie um eine Stellungnahme zu den Bereichen Soziologie, Politik, Wirtschaft, Umwelt, Energie, Pädagogik und Gesundheitswesen. Aus den Antworten ist das Buch: „Quo vadis Deutschland – was sich ändern muss“ entstanden:
„Dieses Buch basiert auf 5000 Umfragen aus Deutschland. Diese Umfragen habe ich durchgeführt in Universitäten, Hochschulen, etablierte Parteien, verschiedene Vereine und Organisationen, Verbände – also ganz Deutschland hat an diesem Buch teilgenommen. Ganz fremde Leute habe ich angeschrieben und sie fanden meine Fragen so interessant, dass sie bereit waren zu antworten.“
Ihre Anfragen hat sie als normale Briefe verschickt – also mehrere Tausend Blätter geknifft, gefaltet, in einen Umschlag gesteckt und frankiert. Ein Brief, sagt sie, bleibt besser in Erinnerung als eine e-mail. Die weitere Kommunikation lief dann allerdings doch elektronisch. Der Rücklauf war entsprechend groß. Für jedes Kapitel fand sie einen Wissenschaftler, der sich bereit erklärte, die Antworten auszuwerten und ein Resümee zu ziehen. Im Kapitel über Politik schreibt Marianne Grimmenstein:
„Erstmals in einem ARD-Deutschlandtrend im November 2006 gab die Mehrheit der Befragten – 51 Prozent – an, dass sie nicht mehr zufrieden ist, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. 66 Prozent der Bundesbürger bezeichneten die Situation im Land als ungerecht. In der Nichtlösung der verschiedenen Sachprobleme wie z.B. im Bildungswesen oder in Umwelt und Energiewirtschaft, zeigt sich die Demokratieproblematik besonders krass: Das Parteisystem ist unfähig, den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden. Selbst die besten Lösungsvorschläge kommen in die Mühlen der Parteistrategien.“
Am Anfang habe sie selbst nicht an den Erfolg ihres Projekts geglaubt, gesteht sie. Zu ihrem Erstaunen meldeten sich dann aber nach und nach einige Wissenschaftler bei ihr, um das Projekt zu unterstützen.
Eine ihrer Fragen bezieht sich auf die Intransparenz der Verwaltung. Hier schreibt zum Beispiel Siegfried Bratke von der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen unter anderem:
„Es gibt in der Verwaltung Bereiche von denen die Bürgerinnen und Bürger profitieren, ohne von ihnen Kenntnis zu nehmen. Beispielsweise die Hackfleischverordnung. Sie ist für jeden Imbissbudenbesitzer eine Bedrohung, während sie für die Käufer die Sicherheit schafft, dass sie frische und gesunde Ware erhalten.“
Intransparenz und Politik in Hinterzimmern wird oft der Europäischen Union vorgeworfen und führt zu immer mehr Frustration. Die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament ist dementsprechend niedrig. Marianne Grimmenstein wurde nicht erst seit dem Streit um die Freihandelsabkommen eine sehr kritische EU-Bürgerin:
„Ich würde sagen, Brüssel ist nicht die Hauptstadt Europas eher Paris oder Wien – aber nicht Brüssel. Ich hab in Ungarn eine sehr gute Definition von Brüssel gelesen: Brüssel ist der verdorbene Magen von Europa.“
Sie verfolgt auch die EU-kritischen Reaktionen in den einzelnen Mitgliedstaaten, egal ob es um die Volksabstimmung in den Niederlanden zum Vertrag zwischen der EU und der Ukraine ging oder um den Brexit in Großbritannien.
Sie will – so schreibt sie in ihrem Buch – das Feld der EU-Kritik nicht irgendwelchen Scharlatanen und Demagogen überlassen. Denn, wenn erst einmal der Rechte Rand die Regierungsgeschäfte übernimmt, dann, so ihre feste Überzeugung, ist es vorbei mit demokratischer Teilhabe und Mitbestimmung.
Ein Kapitel im Buch „Quo vadis“ ist einer zukunftsfesten Umwelt- und Klimapolitik gewidmet. Das Spektrum reicht von Vorschlägen zur effektiveren Energienutzung, über verantwortlichen Ressourcenverbrauch bis zu energiesparender Mobilität. So schreibt Horst-Herbert Krause von der Hochschule Merseburg:
„Unsere Studenten fahren beim Ecomarathon 170 Kilometer mit weniger als einem Liter. Ich fuhr ein Auto über 250 000 Kilometer mit einem Verbrauch von 4,5 Liter auf 100 Kilometer.“
Marianne Grimmenstein ist nicht nur gegen die Freihandelsabkommen, weil sie die Parlamentarische Demokratie aushöhlen, sondern auch weil durch diese Abkommen die Umwelt nachhaltig geschädigt werden könnte. Wir brauchen nicht noch mehr Handel, betont sie. Das Prinzip „immer mehr und immer billiger“ zerstöre die Lebensgrundlagen der Menschen. Sie möchte, dass ihre Enkelkinder auch noch in einer Umwelt leben können, die nicht nur aus verwüsteten Landschaften besteht.
„Und generell ich bin gegen noch mehr Handel. Wenn man die Umweltzahlen realistisch anguckt, sieht es katastrophal aus. Wir müssten nachhaltiger werden. Und das werden wir mit immer noch mehr und noch mehr Wachstum und noch mehr Handel niemals erreichen. Das ist immer Ressourcenverbrauch und das können wir uns nicht mehr leisten.“
Ein abschreckendes Beispiel ist der Abbau von Ölsand in Kanada. Im Westen Kanadas sieht eine Fläche von der Größe Bayerns aus wie ein ausgekohlter Braunkohletagebau. Der Öl-haltige Sand ist eine der dreckigsten Quellen überhaupt für Mineralöl. Das so gewonnene Öl würde mit Hilfe des CETA-Abkommens nach Europa exportiert werden können und es wäre der EU verboten, die Quelle anzugeben.
Nach dem Scheitern ihrer ersten Verfassungsbeschwerde vor zwei Jahren, gab Marianne Grimmenstein nicht auf. Es ging jetzt darum dem Projekt mehr Gewicht zu verleihen. Denn Anliegen von einzelnen Bürgerinnen werden schnell als Querulantentum abgetan und verworfen. Die Online Plattform „Change.org“ unterstützte Marianne Grimmenstein bei der Suche nach Mitstreiterinnen und Mitstreitern. Diskussionen mit Attac-Mitgliedern ergaben, dass sie einen Fachjuristen an ihrer Seite benötigte. Hier half ihr das Netzwerk aus der Recherche zum Buch „Quo vadis“ weiter:
„Ich hatte schon die Gewohnheit gehabt von meinem Buch, Leute auszusuchen und danach habe ich ungefähr 10 oder 11 Verfassungsrechtler mir einfach angeguckt an Universitäten, hab ich die Profile angekuckt und zum Schluss – mit Professor Fisahn stimmte alles. Alle 10 hab ich angeschrieben, verhandelt mit denen, ob es möglich wäre und Professor Fisahn war der Beste.“
Andreas Fisahn ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Bielefeld. Er hat sich mit einer Arbeit über das Thema Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung habilitiert. Europarechtliche Erfahrung sammelte er am Bremer Forschungsinstitut für europäisches Umweltrecht. Als vor einigen Jahren versucht wurde der EU eine Verfassung zu geben – war er auf der Seite der Gegner aktiv. Die EU Verfassung sollte ursprünglich am 1. November 2006 in Kraft treten. Nach gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden war klar, dass nicht alle Mitgliedstaaten den Vertrag ratifizieren würden und so wurde das Projekt EU-Verfassung erst einmal auf Eis gelegt. Stattdessen schlossen im Dezember 2007 die europäischen Staats- und Regierungschefs den Vertrag von Lissabon.
Andreas Fisahn hat in dieser Zeit viele Vorträge gehalten zum Thema: was läuft schief in der EU? Fragen, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben. Als die Bundestagsfraktion die LINKEN das deutsche Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon vom Bundesverfassungsgericht überprüfen ließ, übernahm Professor Fisahn die Prozessvertretung. Auch damals ging es um das Thema „Demokratiedefizit“. Das Bundesverfassungsgericht hat der Linksfraktion teilweise Recht gegeben. Mit dem Ergebnis, dass der Bundestag nun mehr Rechte bekommen hat, um die europäische Politik zu kontrollieren bis hin zu einem Weisungsrecht an die Regierung. Andreas Fisahn engagiert sich unter anderem im wissenschaftlichen Beirat von ATTAC. Mit Anfragen aus der Bevölkerung geht der Jurist jedoch vorsichtig um, erklärt er am Telefon:
„Zu erstmal gehe ich immer so ein bisschen auf Distanz, weil relativ viele Anfragen kommen von Menschen mit oft etwas verqueeren Problemen, die dann am besten umsonst gelöst werden sollen. Also man soll Arbeit für die machen, ohne dass sie dafür bezahlen wollen. Deshalb gehen sie an einen Professor, weil sie denken, der hat ja Zeit, der kann das ja mal machen und nicht zum Rechtsanwalt.“
Marianne Grimmenstein hat zuerst per E-Mail Kontakt zu ihm aufgenommen. Dass sie aus anderem Holz geschnitzt ist als andere, merkte er dann aber relativ schnell:
„Frau Grimmenstein hatte dieses CETA-Projekt und ich hab dann auch erstmal gesagt, hm vorsichtig – und hab gesagt, ja aber dann müssen wir ne Arbeitsteilung machen. Es müssen mehrere Kläger zustande kommen, wir müssen ein bisschen Rückhalt haben. Und das hat sie – muss ich sagen – ganz großartig organisiert – die hat ja 70 000 Unterschriften organisiert und sie vor allen Dingen, was ja ne Schweinearbeit ist, eingepflegt, die ganzen Adressen in den Computer eingetippt, gebündelt und zusammengelegt und was man da sonst noch so alles machen muss. Also da hat sie sehr intensiv gearbeitet und das merkte man am Anfang auch: sie steht hinter der Sache und ist bereit da was zu tun. Und sagt nicht mach Du mal. Ich will nur sehen, dass es irgendwie läuft. Und dann hab ich gesagt, das ist interessant, mal nicht für ne Organisation zu klagen, sondern für Einzelpersonen. Und dann hab ich gesagt ok mach ich.“
Zu seinen Bedingungen zählte auch ein gewisses Honorar. Er wollte die Arbeit nicht als Einzelkämpfer machen schon allein wegen der internen Kontrolle – wie er sagt. So versammelte er einen kleinen Stab und dafür braucht er Geld. Als sie binnen kürzester Zeit über Change.org und Crowdfunding das Geld zusammen hatte, war er endgültig überzeugt.
Aber reicht denn das Argument „Demokratie-Defizit“ aus, um ein so weitreichendes Abkommen wie CETA vom Bundesverfassungsgericht stoppen zu lassen?
„Da ist das Bundesverfassungsgericht – das muss man schon sagen, sehr wachsam, dass Demokratie nicht nur als formaler Ablauf, als formaler Prozess stattfindet, sondern sie fordern ein, dass Demokratie Substanz hat, nicht so eine leere Hülle ist, nicht entleert wird. Und haben beim Lissabon Vertrag eben gesagt, dass der Deutsche Bundestag muss immer informiert werden, der muss angehört werden, der muss mitsprechen können, und kann eben manchmal auch Weisungen erteilen. Das Parlament steht deutlich über solchen Verträgen.“
In den Tagen rund um den 18. Oktober, also schon in vier Wochen, werden voraussichtlich die EU-Kommission, der Ministerrat und das Europa-Parlament über CETA beraten.
Im Juni hat die Kommission immerhin zugelassen, dass 42 Regionalparlamente und alle 28 nationalen Parlamente ihr Votum zu CETA abgeben dürfen.
Allerdings mit dem Plan, das Abkommen „vorläufig“ – also ohne die Abstimmungen der nationalen Parlamente abzuwarten – anzuwenden. Diese „vorläufige Anwendbarkeit“ ist eine groteske Angelegenheit, sagt Andreas Fisahn. Ein so umfassendes Vertragswerk vorläufig anzuwenden und anschließend erst die Parlamente debattieren und beschließen zu lassen, das wird den Ärger über „die in Brüssel“ noch einmal richtig anfachen. Andreas Fisahn ist allerdings zuversichtlich, dass man da einiges machen kann:
„Man kann da intervenieren aus verfassungsrechtlicher Sicht, in dem Sinne, dass Herr Gabriel, der da möglicherweise abstimmen wird, mit „nein“ stimmen soll.“
Das ist etwas, das nur in Deutschland möglich ist. Damit ist Deutschland das einzige Mitgliedsland der Europäischen Union, in dem Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, mit Hilfe der Bundesverfassungsgerichts, der der eigenen Regierung und in diesem Fall auch der EU in den Arm zu fallen:
„Das Verfassungsgericht kann Herrn Gabriel sagen – oder der Bundesregierung – sie darf der vorläufigen Anwendbarkeit nicht zustimmen. Das wär ein Interventionspunkt. Deutschland ist groß und hat viele Stimmen und wird wahrscheinlich ja auch nicht alleine da stehen an so einer Stelle.“
Im Prinzip reichen für die Sperrminorität, um die „Vorläufige Anwendbarkeit“ zu verhindern, die Stimmen von drei großen und zwei kleineren Mitgliedsländern aus. Es kann spannend werden in den nächsten Wochen.
Während also weiter hinter verschlossenen Türen Politiker und Wirtschaftsbosse beraten, ist eine Musiklehrerin aus Lüdenscheid dabei, ihnen in die Quere zu kommen und Demokratiegeschichte zu schreiben. Unterstützt wird sie dabei von 68 000 Bürgerinnen und Bürger. So viele Menschen wie nie zuvor haben sich ihrer Verfassungsbeschwerde anschlossen. Waschkörbeweise kamen im Frühjahr die Briefe in ihrer Wohnung an: 68 000 einzelne Vollmachtserklärung.
Geholfen haben ihr beim Sortieren und Erfassen eine Freundin und ihr Ehemann. Ihr Mann, sagt sie lachend, ist inzwischen diplomierter „Briefumschlägeöffner“:
„Mein Mann ist Handwerker – und das ist auch gut so, weil zwei gleiche Leute in der gleichen Wirtschaft – ist nicht gut.“
In den Briefen befanden sich übrigens nicht nur die Formblätter, sondern auch persönliche Schreiben an Marianne Grimmenstein:
„Ganz viel so kleine Zettelchen mit „Danke schön“ in den Briefumschlägen drin. Dann kleine Postkarten sind dabei oder längere Dankbriefe. Also ganz viele Zuneigung habe ich von den Leuten erfahren. Das muss ich sagen, das war rührend.“
Unter den vielen tausend Vollmachtgeberinnen und -gebern sind auch Bundestagsabgeordnete, sagt sie und Abgeordnete aus dem Europaparlament. Dass sich Politiker für ihre Arbeit interessieren ist ihr schon länger bekannt:
„Ich weiß, dass meine erste Verfassungsbeschwerde hat ein SPD Abgeordneter auf seiner Homepage veröffentlicht.“
In der SPD formiert sich seit einigen Wochen Widerstand gegen die Freihandelsabkommen. Es wurden Petitionen im Internet organisiert oder Briefe an den Bundesvorstand geschrieben. Politiker wie der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel verweisen neuerdings gern darauf, dass die kleinen meist aus drei Rechtsanwälten bestehenden Schiedsgerichte, in einen festen Handelsgerichtshof umgewandelt werden sollen. Gestern auf dem Parteikonvent konnte sich die Parteiführung mit diesem und ähnlichen Kompromissen noch einmal durchsetzen. Ob der Friede hält ist jedoch fraglich. Marianne Grimmenstein jedenfalls lässt sich von derartiger Kosmetik nicht blenden:
„Alles ist geblieben nur der Namen hat sich geändert. Der deutsche Richterbund selbst sagt, die Änderung kann man fast als „null“ bezeichnen. Das wird eine ständige Schiedsgerichtsstelle. Und was hochinteressant ist, zu CETA dass überall sind nur die Rechte der Investoren definiert aber die Pflichten sind nirgends festgelegt, und das ist das Schlimme, also sie sind nicht an dem Gemeinwohl verpflichtet, das heißt also komplett – die ganze Sache ist grundgesetzwidrig.“
Seit zwei Jahren ist der Vertragstext von CETA öffentlich zugänglich – zumindest auf der Homepage der Fraktion der Linken. Marianne Grimmenstein schmökert nicht nur ab und zu im Grundgesetz, sondern studiert auch Dinge wie den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Und dort ist zum Beispiel festgelegt, dass die EU verpflichtet ist, „so bürgernah wie möglich“ zu handeln, schreibt sie in ihren Fragen an Bundeswirtschaftsminister Siegmar Gabriel.
„Auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union regelt in § 42 ausdrücklich das Recht des Zugangs zu Dokumenten: „Die Unionsbürger … haben das Recht auf Zugang zu den Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission“. Die Offenheit ist ein Grundprinzip der Demokratie. Die EU-Kommission verletzt offensichtlich mit ihrem Handeln diese Grundprinzipien, und das dürfte das Bundeswirtschaftsministerium nicht länger tolerieren.“
Aufmerksamen Leserinnen wie Marianne Grimmenstein entgehen auch andere bemerkenswerte Details nicht:
„Ich habe den ganzen CETA Vertag auf Englisch auf meinem Laptop. Also das was bis jetzt übersetzt worden ist, habe ich gelesen. Und die Kündigungsklausel war mir ganz, ganz wichtig. Die Kündigung – wird immer gesagt – ist möglich. Aber steht in CETA drin, kann man kündigen, aber das stimmt nicht ganz. Weil, wenn das gekündigt ist, bleibt dieser Investorenschutzklausel unverändert noch 20 Jahre bestehen. Also dann kann man das meiner Meinung nach gar nicht kündigen.“
Diese Kündigungsklausel wird manchmal auch Zombieklausel genannt. In den ganzen Auseinandersetzungen um die Freihandelsabkommen fühlt sich Marianne Grimmenstein bestätigt, dass man am ehesten als engagierter Unabhängiger seine Ziele erreicht. Deshalb sagt sie in jedem Interview: Ich bin ein freies Elektron. Sie ist weder Mitglied einer Partei noch irgendeiner Gruppierung – auch nicht bei ATTAC.
Als Konsequenz aus dieser Haltung, arbeitet sie daran, dass sich zur nächsten Bundestagswahl möglichst viele unabhängige Bürgerinnen und Bürger um ein Direktmandat bewerben sollen.
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Das Feature wurde am 20. September 2016 im rbb Berlin – kultuRradio, in der Reihe Kulturtermin gesendet. Autorin: Henriette Wrege, Redaktion: Dörte Thormählen