Tag der Deutschen Einheit

Nicht nur zwischen den Löhnen von Frauen und Männern klafft eine große Lücke, sondern auch zwischen Ost und West. Während Frauen rund 18 Pozent weniger auf dem Konto haben als Männer, verdienen Beschäftigte in Ostdeutschland bei gleicher Qualifikation etwa 14 Prozent weniger als im Westen. Je nach Beruf macht der Unterschied für Vollzeitbeschäftigte ein paar hundert Euro im Monat aus, kann aber – im Fall von Maschinenbauingenieur:innen – auch bis zu rund 1.000 Euro betragen, schreibt Malte Lübker vom WSI. Um einen belastbaren Vergleich zu erzielen, beziehen sich die Daten auf eine „Standardfall“ mit zehn Jahren Berufserfahrung. Nichts desto trotz verkünden Krawallblätter wie der SPIEGEL, dass Ostfrauen in Vollbeschäftigung tatsächlich 80 Euro mehr haben als Ostmänner. Tja! Kommt ja selten genug vor. Aber weiter mit dem WSI Text zur Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Wobei bereits die Einführung des Mindestlohns im Sommer 2014 zu einer deutlichen Verringerung des GenderPayGaps geführt hat. Bei Aldi an der Kasse sind eben fast alle gleich schlecht bezahlt. Oder wie es im WSI Text heißt: Niedrige Löhne für alle sind kein Weg zur Vollendung der Deutschen Einheit.

„Der Mindestlohn von 12 Euro, der bundesweit ab dem 1. Oktober gilt, hilft am unteren Rand der Lohnverteilung, das innerdeutsche Lohngefälle abzubauen: Im Osten ist derzeit das Risiko besonders hoch, zu Löhnen unterhalb von 12 Euro zu arbeiten. Im Umkehrschluss profitieren dort auch überproportional viele Menschen von der Mindestlohnerhöhung, auch wenn die absolute Anzahl der Beschäftigten, die ab dem 1. Oktober höhere Löhne bekommen, wegen der höheren Einwohnerzahl im Westen deutlich höher ist, wie eine aktuelle Analyse des WSIs auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigt.

Gute Löhne für alle Beschäftigten in Ost und West lassen sich aber nur über Tarifverträge erreichen. Inzwischen liegt die tarifliche Grundvergütung in Ostdeutschland bei 98 Prozent des Westniveaus – ein oft unterschätzter Beitrag der Gewerkschaften zur Herstellung von gleichwertigen Lebensverhältnissen. Tarifverträge können aber nur wirken, wo sie auch verbindlich angewendet werden. Nach Zahlen des IAB-Betriebspanels lag die Tarifbindung im Jahr 2021 in Ostdeutschland nur noch bei 45 Prozent der Beschäftigten, verglichen mit 54 Prozent im Westen. Gleichzeitig liegen in Ostdeutschland die Entgelte in Betrieben ohne Tarifbindung besonders deutlich unter denen in vergleichbaren Betrieben mit Tarifvertrag. Die innerdeutsche Lohnlücke ist also auch darauf zurückzuführen, dass sich viele ostdeutsche Arbeitgeber der Tarifbindung entziehen.

Tarifflucht ist aber längst auch im Westen zum Problem geworden. Das Paradebeispiel dafür ist der Einzelhandel, im dem die Löhne und Gehälter bis zur Jahrtausendwende über allgemeinverbindliche Tarifverträge geregelt wurden. Inzwischen beträgt die Tarifbindung im Einzelhandel nur noch 28 Prozent (West) bzw. 21 Prozent (Ost). Deshalb ist es auch kein Trost, dass die Lohnlücke zwischen Ost und West in wichtigen Handelsberufen mit gut 5 Prozent vergleichsweise klein ist.  Eine Stärkung der Tarifbindung, auch durch neue Tariftreuegesetze und die Erleichterung von Allgemeinverbindlicherklärungen, hingegen sehr wohl.

Dr. Malte Lübker ist Referatsleiter für Tarif- und Einkommensanalysen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung