Wellenflug

Juli Zeh sagte letztens, sie hätte 1000 Seiten in vier Tagen gelesen. So einen Sog hätte das Buch entwickelt. Ich habe 324 Seiten gestern an einem Tag gelesen – es war auch bei mir der Sog, der mich daran hinderte, den neuen Roman von Constanze Neumann „Wellenflug“ aus der Hand zu legen. Von fast allen Figuren hätte ich gern mehr gelesen – nur von dem schwarzen Schaf der Familie, dem spielsüchtigen Nichtsnutz – eigentlich nicht. Aber um den kommt die Leserin nicht herum: Heinrich Reichenheim. Erstgeborener einer jüdischen Dynastie der Berliner belle epoque. Geld spielt keine Rolle – nur die jeweiligen Patriarchen wissen, wie schwer es verdient werden muss. Alle anderen geben es aus. So auch Heinrich. Mit vollen Händen: am Spieltisch, im Nachtleben und für Marie, in der er die Stütze seines Lebens erkennt, nach dem die anderen Stützpfeiler genug von ihm hatten.
Constanze Neumann trug sich wohl schon lange mit dem Gedanken, ihre Familiengeschichte aufzuschreiben. Sie verband die vielen Bruchstücke unter anderem mit Hilfe ihrer vielen Verwandten in aller Welt. Denn an den Orten, wo das Leben der Reichenheims, der Eisners, der Mendelsohns, von Klemperers statt gefunden hat, erinnert nicht mehr viel. Selbst die Gräber ihrer getauften Ururgroßeltern Anna und Julius Reichenheim gibt es nicht mehr. Nur die Gräber auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee sind noch da: von Adolph Reichenheim, Annas erstem Mann und das Grab, von Adolph, ihrem 1. Sohn aus der 2. Ehe mit Julius Reichenheim. Und da wäre ich bei einer Schwäche des Romans: es fehlt ein Stammbaum! Schon beim Anstieg zum Roman werden Cousinen und Cousins erwähnt, mit denen die Autorin verwandt ist, u.a. mit Judith Kerr, und im Laufe des Buches werden es immer mehr. Es ist eine große Familie mit zum Teil prominenten Mitgliedern. So taucht im Stammbaum der Familie Mendelssohn Charlotte Reichenheim auf, die 1. Frau des Bankiers Paul von Mendelssohn-Bartholdy, bei dem Marie einige Monate als Schreibkraft arbeitete. Heinrich hatte sie dort unterbracht.
Alles in allem sorgt auch diese Familiengeschichte dafür, das jüdische Leben des 19. und 20. Jahrhunderts vor dem Vergessen zu schützen. Und Constanze Neumann hat nicht nur  Gedankensplitter aneinander gereiht, sie hat in bester Tradition   eine Geschichte erzählt. Der Wellenflug der Familie Reichenheim könnte sich so oder anders zugetragen haben. Ja.
Constanze Neumann, Wellenflug, 234 Seiten, Ullstein Verlag, 2021, 22,00 Euro